Die Tunnel der Seele
gewesen? Gab es überhaupt noch Gesprächsstoff zwischen ihnen beiden?
Adam stand am Geländer und starrte auf die Berge. Paul saß in einem dieser Ohrenschaukelstühle und dachte gar nicht daran, näher an Adam heran zu rücken. Das morgendliche Zwitschern der Vögel wurde von lauter Pianomusik übertönt, die aus dem Studierzimmer drang und sich mit einem betrunkenen Lachen vermischte, das ohne Zweifel von einem weiteren Künstler stammte, der seine selbst verschuldete Misere im Alkohol ertränken wollte.
Wenn Adam seine Albträume wenigstens mit der jämmerlichen Ausrede hätte erklären können, dass auch er zu tief ins Glas geschaut hatte. Aber er war stocknüchtern ins Bett gegangen und sein Kopf war so klar, dass er sich an jedes winzige Detail seines Todes und seiner anschließenden Auferstehung erinnern konnte.
»Weißt du was?« Pauls Blick wirkte unheimlich und finster, als er einen weiteren Zug nahm. Er inhalierte den Rauch tief in die Lunge und blies ihn dann mit einer übertriebenen Geste in Adams Richtung. »Vielleicht solltest du ein bisschen lockerer werden und das Leben wieder mehr genießen. Musst du denn alles immer so beschissen ernst nehmen?«
Ein verklemmter, stockkonservativer Junge aus Manhattan. Ja, das war Adam. Während die meisten Leute damit beschäftigt waren, eine weitere Eroberung flach zu legen, über die angesagteste Band des Monats nachzudenken oder die Klamotten ihres Lieblingsdesigners zu erstehen, machte er sich Sorgen über Investmentfonds. Aber wenigstens war Adam nicht egoistisch. Deshalb war es für ihn auch so wichtig, dass eine Beziehung gut lief. Deshalb wollte er auch ein Kind adoptieren.
Er wollte das, was er hatte, mit jemandem teilen. Er wollte sich mit Leib und Seele aufopfern. Er wollte bei jemandem einen Platz im Herzen haben. Jetzt aber befürchtete er, dass dieses Herz wohl nicht Paul gehören würde.
»Nur zu, tu dir keinen Zwang an«, sagte Adam. »Lass alles raus und mach mich fertig. Das machst du doch schon, seit wir hier angekommen sind. Dann kannst du es jetzt auch zu Ende bringen.«
Paul musste kichern. »Der Märtyrer! Die Handflächen von Nägeln durchbohrt und eine Lanze mitten durchs Herz. Armer kleiner Junge! Das bringt mich auf eine Idee für mein nächstes Video.
Das selbstlose Leiden des Adam Andrews
.«
Arschloch. Arschloch.
Arschloch
!
Adam ballte die Hände zur Faust, spürte, wie sich Wut und Angst zu einer explosiven Mischung vermengten, die sich jede Sekunde entladen konnte. Aber wenn er jetzt die Fassung verlor, hatte Paul endgültig gewonnen. Wenn Adam schon den Kürzeren zog, dann erhobenen Hauptes. Und darin hatte er Übung.
Er zwang sich, mit leiser, ruhiger Stimme zu sprechen. »Sieh mal, da ich nun weitere fünf Wochen hier festsitze, können wir auch einfach versuchen, nett zueinander zu sein. Vielleicht können wir uns später an diese Zeit erinnern und so tun, als ob es gar nicht so schlecht war.«
Der Schaukelstuhl gab ein quietschendes Geräusch von sich, als Paul aufstand und den Stummel seines Joints in das feuchte Gras neben der Veranda schmiss. Paul ging auf Adam zu, beugte sich zu ihm vor, bis sein Gesicht so nah war, dass Adam seinen nach Marihuana und Alkohol stinkenden Atem roch.
»Das ist doch mal ein Wort«, erwiderte Paul. »Da wir nun beide hier festhängen, können wir auch das Beste daraus machen.«
Adam versuchte der Berührung zu entkommen, aber Paul nahm ihn fest in den Arm, sein heißer Atem strich über Adams Nacken.
»Paul, ich denke nicht—«
»Psst, ganz ruhig. Du ereiferst dich so sehr über Ephram Korban, bist so aufgeregt und sprichst sogar im Schlaf über ihn. Aber vielleicht solltest du lieber mit mir vorlieb nehmen, schließlich bin ich ein wenig realer.«
»Das kann ich nicht, weil ich weiß, dass ich dir scheißegal bin. Und jetzt hör auf damit, Miss Mamie beobachtet uns vielleicht.«
Paul trat einen Schritt zurück und schaute Adam in die Augen. Lächelte ihn an. Er sah so verdammt gut aus mit seinem wuscheligen Haar und den knabenhaften Zügen. Und das wusste er nur zu gut.
Doch plötzlich verzerrte sich Pauls Gesicht, nahm die verdorbenen, grausamen Züge von Ephram Korban an, der ihn nun so höhnisch wie eine Halloween-Maske angrinste.
Und da war er wieder, der Traum! Spielte sich erneut in all seiner Härte und Klarheit vor seinem geistigen Auge ab. Korban, der ihn über die Brüstung des Witwenstegs beugte, nur dass er ihn dieses Mal auch noch küsste, sein Atem heiß und
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