Die Tunnel der Seele
das möglich war. Verleugnete ihre Existenz. Begrub sie.
»Wohin führt der Tunnel, Ransom?«
»Ans
Ende
natürlich. Wohin sonst?«
Mason musste schlucken. Er erinnerte sich an Ransom, den alten, lebendigen Ransom, der ihm erzählt hatte, dass der Tunnel zum Keller des Herrenhauses führte. Er überlegte, ob er zur Leiter rennen sollte, hörte dann aber ein Quieken und ein Flüstern. Es war unverkennbar die Stimme seiner Mutter, die da aus dem dunklen Schlund des Tunnels zu ihm drang. »Träume sind alles, was wir haben, Mason. Und jetzt geh da rein und mach mich stolz.«
Doch hier unten in diesem feuchten, schmutzigen Loch in Korbans Haus erschien ihm ihre Stimme irgendwie befremdlich. Ihre Worte klangen eigenartig, fiepsig, wie ein Quieken, das zwischen riesigen, gebogenen Nagezähnen hervortrat.
Mason folgte Ransom in den schwarzen Tunnel. Das Licht wurde immer greller, war plötzlich so unerträglich hell, dass er aufgeregt blinzeln musste. Als er jedoch die Laterne auf dem Tisch brennen sah, beruhigte er sich wieder. Mason befand sich im Atelier und seine unvollendete Statue wartete auf ihn.
»Die Tunnel der Seele, Mason«, sagte seine Mutter. »Ich pass auf dich auf.«
Als Mason zurückblickte, sah er gerade noch, wie ein abscheulich langer, grauer Schwanz in den Tiefen des Tunnels verschwand. Ransom stand im Schatten des Kellers. »Wir alle haben unsere Pflichten. Ich werde im Tunnel verharren. Du hast vorerst auf
dieser
Seite zu tun.«
Zitternd kniete sich Mason hin, nahm ein Kanneliermesser und seine kleine Axt und ging auf die Statue zu. Er musterte die grobe, aus dem Eichenholz herausgearbeitete Form. Ephram Korban steckte irgendwo da drin, er steckte überall drin. Tief drin in der Seele.
Mutter hatte gelogen. Sie hatte gesagt, dass unsere Träume alles wären, was wir auf dieser Welt haben. Aber wir haben auch Albträume. Und Erinnerungen.
Und manchmal kann man sie nur schwer voneinander unterscheiden.
Mason stürzte sich auf das Holz, als ob sein Leben davon abhinge.
55. KAPITEL
S ylva öffnete die Tür noch bevor Anna die Hütte erreicht hatte. »Hab dich schon erwartet.«
Anna ging an ihr vorbei und trat ein, ohne darauf zu warten, von Sylva hereingebeten zu werden. Sylva blickte zu dem gefalteten Stück Stoff auf dem Kaminsims, in dem sie ihren Zauber aufbewahrte. Jedes Geheimnis aus dem Buch der Magie und noch einige mehr, die man sich einst vor langer Zeit am Lagerfeuer zugeflüstert hatte, waren darin verborgen, zu einem mächtigen Zauber zusammengebraut, über dessen Wirkung kaum jemand zu sprechen wagte. Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über die Ängste und Empfindlichkeiten irgendwelcher zart besaiteten Leute Gedanken zu machen.
»Wärm dich erstmal auf«, sagte Sylva und zeigte auf einen alten Rohrsessel am Feuer. »Heute ist eine dieser Nächte, die uns wissen lassen, dass der Winter vor der Tür steht.«
»Du hast mir nicht die ganze Wahrheit erzählt«, meinte Anna und ging zum Kamin, nahm aber nicht im Sessel Platz, sondern kniete sich vor das Feuer.
»Manches sollte man besser nicht wissen. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Es ist schon schlimm genug, dass du die Gabe besitzt. Wenn du nicht auf dich aufpasst, wirst du schon bald auf der falschen Seite landen.«
»Aber warum denkt meine Mu—nein, nicht meine Mutter, ich meine
Rachel Hartley
, warum denkt sie, dass ich eine Art Retterin für die Verfolgten bin? Warum hat sie mich hierher geholt? Wenn Korban sie alle schon bei sich hat, was kann ich dann noch tun? Nur weil ich Geister sehen kann, heißt das nicht, dass ich irgendwelche besonderen Kräfte besitze.«
»Erinnerst du dich, was ich dir über Kräfte erzählt habe? Es kommt nicht darauf an, was man glaubt, sondern wie viel man glaubt.« Sylva wandte den Blick nicht von den lodernden Flammen ab, zwang sich, nicht hinauf zu dem zusammengefalteten Stück Stoff zu schauen, ganz gleich, wie begierig ihre Augen waren.
»Ich schulde Rachel nichts«, sagte Anna. »Du sagtest, Blut sei dicker als Wasser. Aber nur allein durch das Blut ist man nicht miteinander verbunden.«
»Kindchen, ich weiß, wie sehr dich das trifft. Ich hasste mich selbst für meine Schwäche, für meine Sünde mit Korban. Hunderte Male habe ich versucht, mir einzureden, dass
er
dafür verantwortlich war, dass er mich verhext und verführt hat. Doch wie leicht belügt man sich selbst. Wie einfach ist es, die Wahrheit zu verbergen, sie in die Finsternis zu drängen,
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