Die Tunnel der Seele
wo niemand ihr auf die Schliche kommt, schon gar nicht man selbst.«
Oh ja, du weise Frau, du kennst die Wahrheit, nicht wahr? Ephram hat dich damals dazu überredet, ihn in der Nacht des blauen Mondes zu töten, damit seine Seele ins Haus wandern kann. Aber du hast nicht geahnt, dass Ephram auch all die anderen Seelen, die auf seinem Anwesen gestorben waren, zu sich holen würde. Und gütig wie du warst, hast du auch nicht mal im Traum daran gedacht, dass er Miss Mamie jung halten, dass er seine Liebe in ein solches Gift verwandeln würde.
»Deine Sünde ist nun schon so lange her«, erwiderte Anna. »Nach all den Jahren solltest du dir doch selbst vergeben können.«
»Ich habe mich schon immer davor gefürchtet, einfach loszulassen und ihn zu lieben«, meinte Sylva. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Male ich mir gewünscht habe, diese Nacht noch einmal erleben zu können. Aber tief im Inneren quälten mich auch diese Ängste. Vielleicht war das alles Ephrams Masche, einer seiner Tricks. Es ist unheimlich erschreckend und verletzend, wenn dein Herz gestohlen wird. Und es ist genauso erschreckend und verletzend, wenn man so viel Hass verspürt, dass man innerlich verbrennt.«
»Aber Rachel—«
»Ich habe sie geliebt, genauso wie sie dich liebt. Ich vermute genauso sehr, wie Ephram mich geliebt hat.«
»Du hast gesagt, Miss Mamie hätte ihn am Leben gehalten. Und die Geister, die er hier gefangen hält. Die er als seinen Brennstoff benutzt, denen er die Seelen aussaugt, an deren Schmerzen und Träumen er sich labt.«
»Wofür, glaubst du, brennt Ephram?« Sylva beugte sich vor und nahm den Schürhaken, stocherte damit in den angehäuften Holzscheiten, bis die Glut Funken sprühte, die knisternd den Schornstein hinauftanzten. »Die Toten sind genauso wie die Lebenden. Beide wollen das, was sie nicht haben können. Ephram hatte unerfüllte Träume, einen unstillbaren Appetit. Deswegen bist du hier.«
Sylva fühlte die Schwäche in ihren alten Gliedern, spürte das stockende Fließen ihres Blutes durch ihre verengten Venen. Viel zu lange schon war sie nun alt gewesen. Sie bedauerte sehr vieles, wurde benutzt, hatte sich zum Narren gemacht. Wenn sie doch endlich ihre Augen schließen und in Frieden ruhen könnte. Doch Ephram Korban würde das nicht zulassen.
Auf Gedeih und Verderb war Sylva an diesen Ort gebunden und Rachel hatte viel zu spät realisiert, dass das, was Ephram gehörte, immer zurückkehren würde. Rachels Tod hier oben war Annas einzige Chance. Denn Ephram würde immer herausfinden, wo Anna sich aufhielt, ihre Gabe würde ihm wie ein Leuchtfeuer am Nachthimmel den Weg weisen.
»Und mein Vater?« fragte Anna. »Hast du irgendwelche Bilder von ihm?«
»In dieser Gegend bewahrt man keine Erinnerungsfotos auf, vor allem nicht von denen, die tot bleiben wollen. Hast du schon mal was von Voodoozauber gehört? Wo man Puppen benutzt, um erst von deinem Körper Besitz zu ergreifen und dann deine Seele zu stehlen? Die bist die Einzige, die sie von Ephram befreien kann.«
»Was geht mich das an?« erwiderte Anna. »Die Toten werden dann immer noch tot sein. Und ich werde immer noch nichts haben und zu niemandem gehören. Wenn ich hier sterbe, dann habe ich wenigstens ein warmes Plätzchen, an dem ich umherspuken kann.«
Sylva ließ ihren Tränen freien Lauf. Das war ein wirklich raffinierter Trick. Anna fiel darauf herein und kam näher. Sylva umarmte sie.
»Rachel hat ihr Leben geopfert, damit du entkommen konntest«, flüsterte Sylva in Annas Ohr. »Wenn Ephram Rachel jetzt holt, dann verlierst du sie für immer. Und von denen, die im Haus gefangen gehalten werden, haben nicht alle gesündigt. Zum Beispiel dieses Mädchen namens Becky, das du in der ersten Nacht hier gesehen hast. Die Kleine wurde aus heiterem Himmel von einem Baum erschlagen, obwohl sie keiner Fliege etwas zuleide getan hatte. Wenn es irgendeine Seele gibt, die die Freiheit verdient hat, dann ist es ihre.«
Anna ballte die Hände zu Fäusten. »Was soll ich tun? Was kann ich allein schon ausrichten? Ich bin schwach. Ich werde sterben. Meine Seele ist nicht gerade im besten Zustand. Wie zum Teufel soll ich
glauben
können?«
»Du musst nur deinem Herzen folgen, Anna.« Sylva trat ans Fenster. »Die Sonne geht gleich unter. Du weißt, was das bedeutet.«
»Ja, ja. Der blaue Mond.«
Gebückt schlurfte Sylva durch das Zimmer und verfluchte Ephram im Stillen dafür, dass er ihre Knochen so gebrechlich und ihre Haut so
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