Die Tunnel der Seele
konnte.
Aber Mason konnte sie hören, obwohl er sich die nassen Decken über den Kopf gezogen hatte. Er hörte ein leises Flüstern, hörte, wie ihre winzigen Zungen über den Boden leckten. Die Flasche. Die verschüttete Brühe hatte sie angelockt. Würden sie sich damit zufrieden geben? Würden sie wieder verschwinden?
Bitte,
bitte
, verschwindet.
Das Fiepsen klang nun eher wie Gelächter, wie ein feuchtes, sabberndes Gekicher. Verschwinden?
Natürlich
würden sie nicht verschwinden, dies hier war die Finsternis und sie waren die Fürsten der Finsternis. Sie krochen in Richtung Gitterbett, mit ihren eklig langen Schwänzen im Schlepptau. Nein,
nein
,
NEIN
.
Dies war das
Hier und Jetzt
und nicht die Erinnerung. Er war kein kleines Kind und er fürchtete sich nicht mehr vor Ratten. Und weil der Rübenkeller dunkler war als die Welt da draußen, würde er die Umrisse der Tür vielleicht erkennen können. Er musste einfach nur die Augen öffnen.
Mutters Stimme sprach zu ihm und er konnte nicht ausmachen, ob die Worte wirklich gesprochen waren oder nur seiner Erinnerung entsprangen:
Es ist IMMER die Erinnerung, Mason. Ein Traumbild. Halte stets an deinen Träumen fest. Denn alles, was wir auf dieser Welt haben, sind unsere Träume.
Plötzlich spürte er etwas Feuchtwarmes über sein Gesicht huschen, direkt unter dem linken Auge. Das war bestimmt nur der Zipfel seiner Decke, ja, na klar, das war es. Ratten fressen doch keine kleinen Jungs. Das sind auch keine winzigen Füße, die da über deine Beine krabbeln, das ist nur deine Fantasie. Und du hattest schon immer eine blühende Fantasie, weißt du nicht mehr?
Und du bist schon lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass die Dunkelheit nicht ewig anhält, dass Ratten nicht die Herrschaft über alles haben, nur über deine Träume. DENN ALLES, WAS WIR AUF DIESER WELT HABEN, SIND UNSERE TRÄUME.
Irgendwann kam Mama heim, öffnete die Tür und schaltete das Licht an. Nahm dich in ihre Arme, aber es war zu spät, Tage zu spät, Jahre zu spät. Die Ratten hatten dich
aufgefressen
, hatten deine Augen verspeist. Jetzt ist es für immer dunkel und sie sind die Herrscher der Finsternis. Und Mama kann die Tür nicht öffnen, denn sie sieht nichts mehr, weil sie auch ihre Augen gefressen haben, und sie sitzt in ihrem heruntergekommenen Sessel in Sawyer Creek und—
»Sieht aus, als ob du echt in der Scheiße steckst.«
Die Stimme drang aus dem Nichts, sprang ihn aus allen Richtungen an, schien mit der Finsternis zu verschmelzen. Die Dunkelheit präsentierte sich tatsächlich in mehreren Nuancen, denn der Tunnel, der sich jetzt vor seinen geschlossenen Augen öffnete, war so dunkel wie ein tiefer, schwarzer Schlund. Am Rande des Tunnels stand Ransom Streater mit sickernden Wunden, seine Brust wie in einem Muster durchbohrt. Er grinste wie eine kahlköpfige Beutelratte, mit leeren, mausetoten Augen.
»Korban hat mich in deinen Tunnel geholt, ziemlich finster bei dir«, sagte Ransom. »Aber du solltest mal sehen, wie es bei mir aussieht. Viel schlimmer als bei dir, das kannst du mir glauben. Doch Korban meint, dass ich meine persönliche Hölle auch mal kurz verlassen darf, wenn ich ihm gute Dienste leiste. Er hat mich beauftragt, dich hinauszubegleiten.«
»Wo bin ich?«
»In den Tiefen deiner Seele. Aber Korban möchte dich zurückschicken. Sagt, du hättest Pflichten zu erledigen.«
»Welche Pflichten?« Mason zwang sich, die Augen weit zu öffnen, obwohl er wusste, dass ihm die hungrigen Ratten auflauerten. Ransom stand noch immer lichterloh vor ihm in einem tiefschwarzen, kalten Tunnel. Doch irgendetwas war jetzt anders. Am Ende des Tunnels erblickte er nämlich ein schwaches Licht, ein verheißungsvolles, wunderschönes Licht, ein rattenloses Licht. Mutter öffnete die Tür.
Mason hörte, wie die Ratten in ihre unsichtbaren Löcher zurückkrochen. Er sagte das einzige, was ihm gerade in den Sinn kam. »Du bist tot.«
»Und das ist kein Zuckerschlecken, das kann ich dir sagen.« Ransom berührte seine Wunden, zog die Augenbrauen hoch, als er den Finger in ein Loch in seinen Rippen steckte. »Du hast wenigstens eine Wahl.«
Mason trat näher, ließ sich vom Licht anlocken. Er schaute zurück in die Dunkelheit, hörte das Schlurfen der Schnurrhaare, das Scharren der Krallen, das Nagen der feuchten, scharfen Zähne. Er schauderte. Korban würde diesen Ort für ihn freihalten.
Am besten ließ man seine Ängste so weit wie möglich hinter sich, zumindest so lange
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