Die Tunnel der Seele
Sie waren einfach zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes Dasein zu analysieren anstatt irgendeine Spur von Mitgefühl für all die Seelen zu empfinden, die auf ewig dazu verdammt waren, rastlos umherzuirren.
Aber in diesem Augenblick fiel es selbst Anna schwer, Mitleid zu empfinden. »Und selbst wenn du frei sein könntest, wohin würdest du dann gehen?«
Rachel schaute aus dem Fenster zu den Bergen, die sich bis zum Horizont erstreckten.
»Fort«, sagte sie.
»Korban hält also deine Seele hier gefangen? Warum sollte er das tun?«
»Er will alles besitzen, das irgendwann einmal ihm gehört hat. Und noch vieles mehr. Er will, dass man ihm dient und ihn anbetet. Er hat unerfüllte Träume. Aber ich denke, es ist die Liebe, die ihn hier hält. Vielleicht fürchtet er sich letztlich nur vor dem Alleinsein.«
»Das scheint also auch in der Familie zu liegen«, erwiderte Anna. »Nun, mir macht es nichts aus, allein zu sein, zumindest nicht mehr. Denn ich habe gefunden, wovon ich annahm, dass ich es schon immer wollte. Und nun habe ich festgestellt, dass ich es eigentlich überhaupt nicht will.«
»In unserer Seele existieren Tunnel, Anna. In ihnen müssen wir uns mit den Dingen auseinandersetzen, die uns in unserem Leben und in unseren Träumen verfolgt haben. In meinem Tunnel bin ich nicht in der Lage, dich zu retten, und muss mit ansehen, wie Ephram deine Macht für seine Zwecke benutzt. Unsere Familie hatte die Gabe zu sehen. Sylva konnte es, ich konnte es, aber in dir ist sie noch viel stärker ausgeprägt. Denn du kannst die Geister sogar ohne irgendwelchen Zauber sehen.«
»Vielleicht hilft mir ja eine Zauberformel, um dich loszuwerden«, sagte Anna. »Gibt es da nicht einen Spruch, der die Toten tot sein lässt? War es nicht ›Weiche Frost‹?«
»Sag es nicht, Anna. Denn bald wirst auch du hinüber geholt und Ephram wird dann für uns alle zu stark sein, um aufgehalten werden zu können.«
Anna erhob sich vom Bett. »Weiche Frost.«
Rachel begann sich aufzulösen, der Blumenstrauß verdorrte zu ein paar durchsichtigen Fäden, in ihren Augen spiegelte sich die unendliche Traurigkeit eines Geistes. »Du bist unsere einzige Hoffnung. Es ist Sylva.«
»Weiche Frost.«
Rachel verblasste immer mehr. »Sylva«, flüsterte sie.
»Weiche Frost. Beim dritten Mal entfaltet es seine magische Wirkung.«
Rachel verschwand. Anna schaute nach oben zum Porträt von Ephram Korban. »Von mir aus kannst du sie haben.«
Anna zog ihre Jacke über, nahm die Taschenlampe und ging für einen Spaziergang nach draußen. Sie wollte einfach nur so weit wie möglich von Rachel entfernt sein. Wenn Rachel auf Korban Manor ihr Unwesen trieb, würde sie eben nach Beechy Gap aufbrechen.
Rachel hatte gesagt, dass Sylva eine Art Geheimnis kannte. Vielleicht wusste sie ja einen Zauber, mit dem man sich alle Geister vom Leib halten konnte. Anna hatte einen Großteil ihres Lebens mit der Jagd auf Geister verbracht. Jetzt, wo sie plötzlich überall auftauchten, wollte sie keinen einzigen mehr sehen, und zwar nicht nur so lange sie lebte, sondern bis in alle Ewigkeit.
54. KAPITEL
M ason schob sich nach hinten und drückte sich gegen die feuchte Lehmbank. Noch eine Süßkartoffel fiel zu Boden. Zumindest
hoffte
er, dass es eine Süßkartoffel war. Die finstere Stille wurde von einem weiteren Quieken durchbrochen, um ihn herum ertönte ein ganzer fiepsender Chor verärgerter Kreaturen.
Er würde sich lieber dem Geist von George Lawson stellen, gegen seine herrenlose Hand und die blutrünstige Heuraupe kämpfen als hier unten im Dunkeln zu bleiben. Er überlegte, ob er zur Leiter rennen sollte, aber er war einfach zu verwirrt und orientierungslos. Wenn er Pech hatte, würde er stattdessen gegen ein Apfelfass laufen oder über eine der Paletten stolpern, die auf dem schmutzigen Boden verteilt waren. Und wenn er zu Boden stürzte, wäre er mit
ihnen
auf Augenhöhe.
Zu seiner Linken hörte er plötzlich ein Knistern und Knabbern, als ob Zähne an einem Stück Aluminiumfolie nagten. In der Dunkelheit konnte er nur sehr schwer ausmachen, wie weit das Geräusch von ihm entfernt war, vielleicht anderthalb Meter. Der Raum wirkte wie ein Sarg, hier unten wehte kein Lüftchen und man spürte keine Ecken oder Kanten, die dem Gefangenen zumindest ein kleines Gefühl von Sicherheit hätten geben können. Zusammengerollt wie ein Igel hockte er in der Finsternis und betrachtete die Ritzen im Bretterboden über sich. Die durchscheinenden gelben
Weitere Kostenlose Bücher