Die Tunnel der Seele
sehen. Hatte ihr gegeben, was sie sich wünschte. Hier könnte sie glücklich und zufrieden sterben.
»Sie sehen heute Abend besonders reizend aus, Anna«, meinte Miss Mamie und die Worte klangen weit weg. Am Ende des Foyers knisterte das Feuer. Anna schaute zum Porträt von Korban über dem Kamin. Großvater. Mit leuchtenden, herzlichen Augen.
Wieso hatte sie sich bloß dagegen gewehrt, die Familie wieder zusammenzuführen? Möge der Kreis ungebrochen sein. Machte es irgendetwas, dass einige von ihnen lebten und andere tot waren? Machte das denn wirklich einen Unterschied?
Eins, eine Trennlinie.
Dann Null. Nichts. Alle gleich.
Anna betrachtete das Haus auf einmal mit anderen Augen. Die Säulen, die Ecken, die Schnitzereien am Kamin, die rotbraunen Vertäfelungen, die polierten Eichenböden. Sie machte Korban keinen Vorwurf, dass er dieses wunderschöne Fleckchen Erde niemals verlassen wollte. Schließlich wollte sie es jetzt genauso wenig verlassen.
»Sie kommen gerade rechtzeitig zur Party«, sagte Miss Mamie. »Oben auf dem Witwensteg.«
Brennstoff.
Das Gemälde.
Irgendetwas an dem Gemälde. Sie hier am Feuer. Mason.
»Was ist los, meine Liebe?« Mit ihrer kalten Hand berührte Miss Mamie Annas Wange. »Sie werden mir doch nicht krank?«
»Wo ist Mason?«
»Der Bildhauer? Er ist gerade beschäftigt, aber er wird schon bald bei uns sein. Sobald er fertig ist.«
Anna ließ sich zur Treppe geleiten. Irgendetwas an den Wänden kam ihr seltsam vor, irgendetwas, an das sie sich erinnern sollte. Sie stiegen die Stufen hinauf, Miss Mamie vorneweg. Als sie das zweite Stockwerk erreichten, schaute Anna den Korridor hinunter zu ihrem Zimmer. Die sternenförmigen Leuchter an der Wand schienen abwechselnd heller und dunkler zu leuchten, als ob sie von langsamen, gleichmäßigen Atemzügen gespeist wurden.
Sie gelangten in die dritte Etage. Anna kam dieser Gebäudeteil zunächst unbekannt vor, sie konnte sich jedoch dunkel daran erinnern, in der Vergangenheit schon einmal hier gewesen zu sein. Die Wände waren mit billigem Kiefernholz verkleidet. Gemälde suchte man hier vergeblich. Es gab Türen, die wahrscheinlich zu weiteren Schlafgemächern führten. Ganz hinten am Ende der Korridore sah man jeweils ein Giebelfenster. Eine Laterne auf dem handgefertigten Tisch nahe dem Treppengeländer war die einzige Lichtquelle in diesem Geschoss.
Die Laterne.
Mason hatte genau so eine im Keller gehabt.
Wo war Mason? Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, aber wie alles andere auch hatte sich die Erinnerung daran im Dunstschleier in ihrem Kopf aufgelöst. Die Wände bebten, blähten sich auf, zogen sich zusammen. Das Haus bewegte sich im Rhythmus ihres Atems. Ihr wurde ganz schwindelig und Miss Mamie lehnte sie an eine kleine Leiter.
Anna schaute nach oben durch die Luke, zu den Wolken, die den blau-silbernen Schimmer des aufgehenden Mondes verschlangen. Der Witwensteg. Das Dach hoch oben am Ende der Welt. Wo ihr eigener Geist auf sie wartete.
Sie zwang ihre Arme und Beine, ihr zu gehorchen und stieg hinauf. Es war an der Zeit, ihrem eigenen Ich zu begegnen.
59. KAPITEL
S pence hatte das WORT gefunden.
Er fühlte—nein,
er wusste
—, dass es am Ende seines letzten Kapitels warten würde.
Die Wahrheit offenbart sich in merkwürdigen Päckchen. Der eine wahre Gott präsentiert sich in den seltsamsten Formen. Alle Geschenke sind bedeutsam. Jedes Geschenk erfordert ein Opfer von gleichem Wert.
Als sich die Wände des Hauses plötzlich wölbten, war er zunächst verwirrt. Wieder so ein Missetäter, wieder so ein Übel, das seine Aufmerksamkeit stehlen, ihn von seinem Weg zur Herrlichkeit abbringen wollte. Bridget rang nach Luft und schrie, als die verschwommenen Silhouetten Gestalt annahmen, von der Decke fielen, aus den Eichendielen hervortraten, kalt und schwarz durch das Zimmer schwebten.
Ungeduldig wischte Spence sie beiseite. Der wahre Weg zur Erleuchtung lockte ihn. Alles andere war jetzt überflüssiger Schnickschnack, nichtsnutziges ausschweifendes Geschwätz. Der Wahre Weg führte zum nächsten Satz, das nächste Wort prägte sich wie von selbst in den Zellstoff, die Tinte auf dem Papier wurde durch das Hämmern des Metalls zum Leben erweckt.
Die Nacht war bereit, ihr Atem entliehen und gefangen, ihre Lungen voll Elfenbein und Erde, ihre Füße aus Granit, ihre Arme trieben den Schlaf aus den Augen der Blinden. Schreiend machte der Monat Oktober auf sich aufmerksam, breitete seinen Frostteppich aus,
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