Die Tunnel der Seele
ihr zartes Lächeln war einem Schreien gewichen, das aus einem finsteren Tunnel drang.
Anna. Da war irgendetwas an Anna, an das er sich eigentlich erinnern müsste, wenn er nur an irgendetwas anderes als diese verdammte Statue denken könnte.
Aus den Ecken des Kellers hörte er wieder dieses Flüstern und er befürchtete schon, der Tunnel hätte sich erneut geöffnet und seine Mutter würde wieder herauskriechen, mit ihrer spitzen Nagernase an ihm schnüffeln, ihre scharfen Zähne fletschen, ihre Krallen wetzen und ihm von der Macht der Träume erzählen.
Das Flüstern regte sich erneut und er erkannte Annas Stimme: »Mason.«
Die Stimme kam von dem Bild.
»Hör nicht auf sie, Bildhauer«, sagte die Büste. »Ich brauche dich. Gib mir meine Augen. Und meinen Mund. Ich bin hungrig.«
Noch einmal sprach Anna vom Gemälde zu ihm. »Er lässt dich verbrennen, Mason. Er lässt uns alle verbrennen.«
»An die Arbeit«, forderte die Büste.
»Er verbrennt unsere Träume«, fuhr Anna fort. »Je näher mein Tod rückt, umso mehr verstehe ich es.«
Tod? Anna?
Er musste sie finden. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Er schaute auf seine von Blasen übersäten Hände, auf sein Werkzeug, auf die Dinge, die dieses Ungeheuer vor ihm geschaffen hatten. Wem sind diese Abgötter aus Holz entsprungen? Mit Sicherheit nicht seiner eigenen Fantasie!
»Erwecke mich mit deinen Träumen zum Leben«, verlangte die Büste. »Hör jetzt bloß nicht auf.«
Korban mit seinen Träumen zum Leben erwecken?
Nein.
Er wollte seine Träume für sich selbst verwirklichen. Egal, ob sie gut oder schlecht waren. Egal, ob sie ihm jemals Ruhm brachten. Egal, ob sie Mutter stolz machten oder nicht.
Seine Träume gehörten ihm. Nicht Korban.
Mason hob den Spitzmeißel, schlug in ihn die hölzerne Brust der Statue, schwang seinen Arm zurück und schmetterte mit dem Hammer auf den Stahl. Die Büste schrie auf. Mason schleuderte ihr den Hammer entgegen und stieß sie um.
»Bildhauerrrrrrrrrr«
, grölte Korban. Seine Stimme klang wie Tausende Lauffeuer, die den Raum von innen auffraßen, durch die Mauern drangen und das Fundament des Hauses erschüttern ließen.
Die Statue bebte, ihre Glieder zersplitterten unter einem abscheulichen Ächzen, die Nägel, mit denen sie an den Stützen befestigt war, sprangen heraus. Die Hände aus Holz fuchtelten verzweifelt umher und versuchten sich an den Strippen festzuhalten. Die Beine lagen abgetrennt am Boden, die dunklen, klobigen Füße noch immer unter der Eichenrinde verborgen. Doch plötzlich schabten die plumpen Füße über den Boden.
Bewegten sich auf ihn zu.
Mason stieß an den Tisch, die Laterne kippte um, brach entzwei. Das Licht erlosch und sie standen in völliger Dunkelheit.
Er und Korban.
Aber Korban war im Gegensatz zu ihm an die Dunkelheit gewöhnt, labte sich an der Dunkelheit,
war
der Inbegriff der Dunkelheit.
Mason tastete sich nach vorn, dorthin, wo er die Treppen vermutete. Er stolperte über etwas Metallenes, fiel dann in die Arme der zum Leben erweckten Statue, krachte mit seinen Knochen auf das Holz—
Nein, es war nicht die Statue, auf die er stürzte. Es war ein altes Bettgestell. Er war vollkommen verwirrt, ohne jede Orientierung. Hinter sich vernahm er ein Scharren und Quieken. Hörte ihre nagenden Stimmen.
Nein, nein, nein, nicht schon wieder.
Und dieser Gedanke zog einen ganzen Rattenschwanz anderer, ebenso furchterregender Gedanken nach sich. Er hatte sich danach gesehnt, ein Kunstwerk für die Ewigkeit zu schaffen. Und er hatte es tatsächlich vollbracht. Dies würde ihn über seinen Tod hinaus berühmt machen.
Mit klappernden Gliedern suchte die Statue nach ihrem Schöpfer, machte dabei Geräusche, die wie das Brechen von porösen Knochen klangen. Korban reckte und streckte sich, stellte seinen neuen Körper in der Dunkelheit auf die Probe. Seinen wundervollen, wenn auch klobigen Körper, erschaffen von Masons barmherzigen Händen.
»Ich bin blind«, murmelte Korban, als ob er auf Sägespänen kauen würde. »Du hast mir keine Augen geschenkt.«
Masons Finger bekamen einen der Stützbalken zu fassen. Er schlüpfte dahinter und hockte sich in die Dunkelheit. Er versuchte, langsamer zu atmen, jedoch ohne Erfolg. Sein lautstark pochendes Herz würde ihn verraten. Die schweren, hölzernen Füße schlurften in seine Richtung.
Wenn er blind ist, dann ist er auch taub. Es sei denn, ein Teil von ihm steckt noch immer in der Büste. Dann kann er
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