Die Tunnel der Seele
dich vielleicht sogar RIECHEN.
Mason schauderte bei dem Gedanken an eine Ratte, die auf den Hinterpfoten stehend in der Luft schnüffelte, mit bebenden Schnurrhaaren und runzeliger Nase nach Nahrung suchte. Korban war eine Ratte, ein Nagerkönig, der gekommen war, ihn zu holen. Der dicke Schwanz schleifte über den kalten Betonboden. Mason presste die Finger auf seine Augenlider, bis sich seine Vision unter den Schmerzen in einem grellen, grünen Licht auflöste.
»Komm her, Bildhauer«, rief Korban, jetzt mit klarer, schriller Stimme. War Korban wieder von der Statue zurück in die Büste entwichen?
Die holprigen Holzfüße kamen näher, schlugen dann aber plötzlich eine andere Richtung ein.
Wo waren die Treppen?
»Lass mich nicht im Stich«, drohte Korban. Der Raum wurde von seiner Stimme ausgefüllt, doch Totenstille verschlang das Echo.
Die Statue musste die Büste gefunden und vom Boden aufgehoben haben. In welcher von beiden befand sich Korbans Geist? Oder hatte er von beiden gleichzeitig Besitz ergriffen? Wenn er ein ganzes Haus für sich in Anspruch nehmen konnte, dann war es für ihn ganz bestimmt ein Leichtes, von einem Stück Holz in ein anderes zu schlüpfen.
Zwei schwerfällige Schritte nach vorn. Mason hörte ein Krächzen und war sich nicht sicher, ob es der keuchende, widernatürliche Atem von Korban oder das Rauschen der warmen Luft in den Rohrleitungen über ihm war.
»Wir brauchen einander«, flüsterte Korban.
Ruhm, Glück und das Mädchen. Und alles, was Mason dafür tun musste, war das, wofür er schon immer gelebt hatte, wonach er sich schon immer gesehnt hatte. Was ihm im Blut lag. Was seine Bestimmung war. Wofür er geboren worden war. Wofür er sterben würde.
Schöpfen.
Durch seine Träume zum Leben erwecken.
Er war dafür geschaffen zu schaffen.
Er könnte Korban schaffen und Korban könnte
ihn
schaffen. Was hatte Anna gleich nochmal gesagt? Es kommt nicht darauf an, was wir glauben, sondern wie viel wir glauben. Er glaubte an seine Kunst.
Mason spürte das Verlangen, sein Werk zu berühren, über die glatten, geschmeidigen Muskeln zu fahren und die hölzerne Haut zu streicheln.
Dies würde sein Lebenswerk werden. Alles wäre so einfach. Er musste einfach nur die Züge der von ihm geschnitzten Büste auf die Statue übertragen. So könnte er Korban letztendlich und endgültig zum Leben erwecken.
Er vernahm ein leises Schnalzen. Ein Kichern. Oder war es das Säuseln einer Ratte?
»Vollende mich«, flüsterte Korban.
Was war schon dabei, einfach aufzugeben, sich dem Traum zu unterwerfen? Warum dachte er darüber nach, vor den tiefsten Wünschen in seinem Herzen zu flüchten? Warum überlegte er, wie er dem lodernden Feuer seiner Seele entkommen könnte?
Wieder drang Annas Stimme aus der Dunkelheit, aus der Ecke, wo das Gemälde stand.
»Er wird deine Träume auffressen, Mason.«
Mason kroch zu den Treppen, stolperte nach oben, hinter sich den zum Leben erweckten Keller, das wütende Krächzen des Holzes, das Schlittern unsichtbarer Kreaturen, der kalte Tunnel der Finsternis, der ihm dicht auf den Fersen war und ihn für immer zu verschlingen drohte.
61. KAPITEL
S ylva stand vor der Eingangstür. Viele Jahre hatte sie das Haus nicht betreten. Das letzte Mal war sie hier gewesen in der Nacht, in der Rachel gestorben war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Doch es war nicht nur die kühle Oktoberluft, die sie frösteln ließ. Es war vor allem dieser Ort, dieser heilige Boden, wo die Seelen frei umher schwirrten, der bei ihr für Gänsehaut sorgte. Sie hatte das Gefühl, eine Kirche zu betreten.
Sie drückte das Zaubersäckchen, das verborgen in ihrer Bluse steckte, und hielt es an ihr glühendes Herz. Sie hatte Angst, aber sie hatte ihren Glauben. Der aufgehende Mond überzog den Berg mit einem kühlen Schimmer. Es schien fast so, als ob der Tag in ein neues Licht getaucht wurde. Vielleicht stimmte das ja auch. Vielleicht brach in diesem Moment ein neuer Tag an, der endlose Nacht verhieß. An dem die Dinge neu geboren, dunkle Versprechen gehalten und gebrochen wurden. An dem Zaubersprüche so gewichtig wie Gebete waren.
Ohne anzuklopfen stieß Sylva die Tür auf. Ephram wusste, dass sie hier war, das war klar. Sie musste sich also nicht heranschleichen. Und die anderen, die trieben in den Wänden ihr Unwesen, wirbelten im Keller umher, drangen durch die Risse in den Kaminplatten.
Der Anblick von Ephrams Porträt raubte ihr fast den letzten Atemzug. In
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