Die Tunnel der Seele
du tot bist.
Es war längst Zeit, endlich aufzuwachen.
Er wollte losrennen, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, starr, bewegungslos, wie ein festgefrorener Grabstein im eiskalten Dezember.
Die Menge versammelte sich um den am Boden liegenden Körper, die Geister—
ja, natürlich, es waren Geister, wenn ich schon einen miesen Traum habe, dann setze ich gleich alles auf eine Karte
—die Geister, die gerade noch Individuen mit einer eigenen Persönlichkeit gewesen waren, verschmolzen nun zu einem dichten Dunstgebilde. Adam, dessen anfängliche Panik jetzt einer eigenartigen Faszination gewichen war, starrte auf das Objekt ihrer Aufmerksamkeit.
Das Wesen, das da vor ihnen ausgebreitet lag, war er selbst. Die Person, die man ehemals unter dem Namen Adam Andrews kannte. Er sah das Muttermal auf seiner Wange. Die kleine verblasste Narbe über seinem Ellenbogen, die ihn an seinen Fahrradsturz als Neunjähriger erinnerte. Den seltsam verbogenen Fußzeh, den er sich während seiner Highschoolzeit beim Fußballspielen ausgekugelt hatte. Seine Hand, an der noch immer der Granatring steckte, den er von Paul geschenkt bekommen hatte. Seine Finger mit den ungleichmäßig geschnittenen Nägeln, dazwischen die herausgerissenen Barthaare von Korban.
Da lag sein eigen Fleisch und Blut.
Plötzlich vernahm er aus der Ferne ein leises Geräusch. Es hallte über die Wiese, überzog die Hügel. Ein Klagelied, das Adam an den bizarren Gesang der Wale erinnerte. Exzentrisch, schwermütig, melancholisch. Die unmelodischen Silben vermischten sich zu einem Stimmenwirrwarr, verbanden sich zu einem zähen Getöse, das aus dem Herrenhaus drang, so als ob das Foyer die Kehle des Gebäudes war.
Die Geister wanden sich dem Eingang zu, in ihrer Bewegung lag ein Pathos, der nur den Toten beschieden war. Adam schluckte, schaute auf seine Hände herab und stellte erschrocken fest, dass er genau den gleichen Nebelschwaden entsprang wie die anderen, aus den gleichen unwirklichen Fäden gesponnen war. Er war ein Geist. Das bedeutete …
Er war wirklich tot.
Er lächelte sich selbst an. Er schloss seine träumenden Augen. Er würde nicht mehr sauer auf Paul sein, zumindest so lange nicht, bis er ihm von dem Traum erzählt hatte. Er fragte sich, ob er schnarchte, erinnerte sich dann aber, dass er die Betten auseinander geschoben hatte. Also würde ihn Paul jetzt auch nicht in die Rippen boxen, wie er es sonst immer tat, wenn er genervt von seinen Schlafgeräuschen war.
Dabei würde er doch jetzt so gern durchgekitzelt werden. Sehnte sich nach Liebkosungen, die ihn munter werden ließen. Wollte Pauls Körper nah an sich heranziehen, um ein wenig menschliche Wärme zu spüren.
Denn der Tod war eine frostige Angelegenheit und ließ ihn erschaudern. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur im Schlaf die Decke von sich gestrampelt und fror deshalb so sehr.
Ja, natürlich. Alles Verrückte ergibt irgendwann einen Sinn, wenn man es nur lange genug analysiert. Und die Entscheidung, Paul zu verlassen, hatte aus seinem Unterbewusstsein wahrscheinlich einige merkwürdige Dinge zu Tage befördert.
Warum sollte dir dein Verstand nicht ein oder zwei Streiche spielen, wenn du schläfst?
Und was könnte denn ein besserer Schauplatz sein als dieses Sammelsurium von Verstorbenen? Wie hieß noch mal dieser alte Schwarzweißstreifen? Ach ja, »Tanz der toten Seelen«. Wach einfach auf und sag dir, »es war alles nur ein Traum«. Und der alte Ephram Korban IST tatsächlich einer von der Sorte, der solche Albträume heraufbeschwört.
Also, warum genießt du es nicht einfach, lachst darüber und spielst bei dem Theater mit? Schon bald wirst du aufwachen und wieder zurück in der realen Welt mit realen Problemen sein. Und dich zum Beispiel darum kümmern müssen, wie es mit Paul weitergeht. Im wirklichen, echten Leben.
Er öffnete die Augen und fand sich immer noch in seinem Albtraum wieder.
Die Geister beugten sich über den toten Körper, hoben ihn hoch. Amüsiert schloss sich Adam ihnen an. Einer Prozession aus leichenblassen Sargträgern gleich, hievten die Geister den Körper die Treppen hinauf zum Haus. Adam folgte ihnen zum Eingang, wo ihn sein Übeltäter Korban erwartete.
Ein kaltes Lächeln des Triumphes huschte über das Gesicht des niederträchtigen Mannes, seine Augen funkelten wie ein schwarzer Onyx.
»Willkommen in deinem ganz persönlichen Tunnel der Seele, Adam« empfing ihn Korban.
Für einen kurzen Moment vergaß Adam, dass er träumte.
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