Die Tunnel der Seele
Er spürte, wie das Blut in seinen Füßen versackte. Dieser Traum war anders als die vorherigen Träume. Irgendwie seltsam. Befremdlich. Denn normalerweise wacht man auf, wenn man träumt, dass man fällt.
Aber Adam wachte nicht auf, sondern erlebte bei vollem Bewusstsein, wie sein Kopf auf den Boden der kreisrunden Einfahrt aufschlug. Er hörte, wie seine Wirbelsäule zermalmt wurde. Er keuchte, als sein Atem rauschend seinen Lungen entwich. Er schrie, als seine Zähne seine Zunge durchtrennten. Er sah, wie das amputierte Stück Fleisch zwischen seinen abgebrochenen Zähnen hindurch auf den Boden geschleudert wurde. Er schmeckte sein Blut, das scheinbar aus jeder Pore seines Körpers quoll. Er fühlte, wie die Knochen seines zerschmetterten Beckens seinen Magen und seine Leber durchbohrten.
Als er geschunden und zermatscht auf der Erde lag, sah er seine eigenen Augäpfel neben seinem Kopf liegen. Finster blickten sie ihn an, die braune Iris verloren in einem weißen, eiförmigen Nichts, die Pupillen riesengroß vor Schock und Angst. Und obwohl er träumte, erkannte er, wie absurd es war, seine eigenen Augen zu sehen. Er konnte es kaum erwarten, Paul davon zu erzählen.
Absurd waren auch die Schmerzen, die er am ganzen Leib spürte. Denn in einem Traum fühlte man eigentlich auch keine Schmerzen. Und was sonst könnte dieses Gefühl sein außer Schmerz? Was sonst außer Blut könnte dieser rote Vorhang sein, der ihn einhüllte? Sein entzwei gerissener Körper zuckte, als ob er vom Blitz getroffen worden war. Seine Nerven jaulten auf wie eine Sirene. Trotzdem versuchte Adam zu lachen, denn irgendwie erheiterte es ihn, dass er diese Höllenqualen mit jeder Faser seines Körpers erlebte, obwohl er mit Gewissheit schon tot war!
Moment mal! Kann man denn träumen, dass man tot ist?
Aber wie
weiß
man denn, dass man tot ist … Diese Gedanken würden einem wohl Kopfzerbrechen bereiten, wenn man nicht wüsste, dass man träumt. Aber Adams Kopf war sowieso schon in Einzelteile zerbrochen. Er kniete sich hernieder, um die Bruchstücke zusammenzukratzen, um die Klumpen seines Gehirns aufzuschaufeln und in ihre zerfetzte Schale zurückzulegen.
Als seine Finger in den dampfenden Furchen seines Großhirns wühlten, stellte er erschrocken fest, dass sein Körper vor ihm ausgebreitet lag. Das war abwegig. Skurril. Surrealistisch. Er rechnete damit, jede Sekunde aufzuwachen und in sein Kissen zu lachen. Aber er wachte nicht auf. Er stand da, schaute auf den roten Schwall, der aus seinem Körper sickerte. Sah, wie sein Kopf von seinem eigenen Gallensekret durchnässt wurde. Wie seine graue Pyjamahose in Fetzen gerissen wurde von seinem Oberschenkelknochen, der im hellen Mondlicht so glitschig und strahlend weiß funkelte wie die Steintreppen, die in das Herrenhaus führten.
Er blickte die Stufen hinauf zum schwarzen Eingangsportal. Aus dem Schlund drängten sich weiße, zerbrechliche Gebilde wie die Fäden eines zerrissenen Spinnennetzes, das von einem Besen weggefegt wurde.
Einige davon verschmolzen zu mehr oder weniger menschlichen Gestalten, zu Männern, Frauen und kleinen Kindern, ihre Gesichter ausdruckslos, ihre Augen so schwarz wie das Innere des Foyers. Manche von diesen Geschöpfen trugen grob gewobene Krinolinen, andere Hosen mit knöpfbaren Schlitzen. Einige Männer waren in Latzhosen gekleidet, auf dem Kopf einen Filzhut. Die Frauen trugen Hauben oder hatten ihr Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Die Jungs hatten kurze Hosen an, ihre geflickten Strümpfe blitzten aus kantigen Lederschuhen hervor. Die Mädchen steckten in einfachen Kleidern und hatten die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, der mit Schleifchen verziert war. Zu den Füßen einer Frau tauchte ein Kleinkind auf, seine Windeln hingen zerfetzt an seinen schmutzigen Beinchen.
Mit weit ausgestreckten Armen liefen die Kreaturen geradewegs auf Adam zu. Nur, dass sie eben nicht liefen, sondern flitzten, huschten, schwebten, flogen. Ihre Münder waren schlapp, ihre entglittenen Gesichtszüge verrieten ihr perfides, makaberes Ansinnen. Es waren ungefähr zwei Dutzend, unter ihnen auch Lilith, das Dienstmädchen mit dem wehenden Kleid. Genau wie die anderen war sie in einen Nebelschleier gehüllt. Er erblickte auch die dralle Köchin, die er erst vor ein paar Stunden dabei beobachtet hatte, wie sie Aufwaschwasser von der hinteren Veranda schüttete, und die sich jetzt die Hände an ihrer Schürze trockenrieb.
Er schrie. Aber niemand kann dich hören, wenn
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