Die Tunnel der Seele
Knien kriechend durchwühlt. Nach nicht einmal einer Minute erhob sie sich wieder und überreichte Anna durch den Zaun ihr Fundstück. Es war ein vierblättriges Kleeblatt.
»Ein Glücksbringer?« fragte Anna.
»Noch viel besser! Man kann damit die Toten sehen.«
»Das habe ich schon längst.«
»Aber nur weil
die Toten
es wollten. Hiermit haben
Sie
die Macht über die Verstorbenen.« Sylva deutete zum Grab von Rachel Faye Hartley. »Die dort drüben sollten Sie herbeirufen.«
»Herbeirufen?«
»Bring Feuer, hol die Toten zurück. Sagen Sie es. Dreimal. Dann entfalten die Worte ihre magische Wirkung.«
»Ich kann das nicht.«
»Es liegt Ihnen im Blut. Sie müssen nur daran
glauben
.«
Anna starrte auf den kalten Stein mit den filigranen, von Hand gemeißelten Blüten, die niemals verwelkten. Sie glaubte an Geister und sah sie auch. Und seit ihrer Ankunft auf Korban Manor erschienen sie ihr noch deutlicher als jemals zuvor. Vielleicht war es immer eine Frage des Glaubens. Vielleicht hatte die tote Seele selbst Einfluss auf das, was wir glauben, und die Geister mussten sich selbst in die Welt der Lebenden zurückträumen.
Vielleicht mussten Anna und der Geist auf halbem Wege zwischen Diesseits und Jenseits aufeinander treffen, vereint im Glauben an das Schicksal trauriger und versklavter Seelen. Und wenn sie dafür lediglich diesen alten Zauberspruch aus den Bergen aufsagen musste, war das eigentlich nicht zu viel verlangt. Den eigentlichen Kraftakt hatte schließlich der Geist zu bewältigen, der in diesem Fall zu Lebzeiten Rachel Faye Hartley hieß. Rachel war es, die in ihrer ewigen Ruhe gestört wurde, die aus der friedvollen Finsternis in eine längst vergessene Welt zurückkehren musste. Eine Welt, die nichts als Schmerzen und Einsamkeit versprach.
Anna betrachtete das Kleeblatt. Glaubte sie wirklich an Magie und Zauberei? Der Krebs, der sie von innen auffraß, ließ ihr keine andere Wahl: Sie musste mit aller Macht an die Beständigkeit der Seele über den Tod hinweg glauben, sonst würde sie sich selbst vom Dach des Herrenhauses in die Tiefe stürzen. Welchen Sinn machte das Leben, wenn man nicht glaubt?
Sie schloss die Augen und sprach die Worte: »Bring Feuer. Bring Feuer. Bring Feuer.«
Über ihren Rücken liefen wohlige Schauer, ihre Haut wurde von einer sanften, unsterblichen Kälte gestreichelt. Als sie die Augen öffnete, stand die Frau in Weiß direkt vor ihr, in ihren zarten, zerbrechlichen Händen hielt sie den Blumenstrauß. Anna hatte das Gefühl, in einen verzauberten Spiegel zu blicken, denn sie erkannte sich selbst in diesem blassen, transparenten Gesicht wieder.
»Anna«, sagte die Frau, mit der gleichen flüsternden Stimme, die Anna in ihren Träumen verfolgt, ihr vom Pfad aus zugerufen, sie in die Wälder gelockt hatte, wo der Geist von George Lawson sie mit seiner abgetrennten Hand gepackt hatte.
»Sie«, erwiderte Anna. »Sie sind diejenige, die mich hierher geführt hat. Es war gar nicht Ephram Korban.«
»Du bist wunderschön, so wie ich mir dich immer vorgestellt habe.« Die Worte quollen aus ihr wie eiskalte Wasserspritzer.
»Wovon sprechen Sie?«
»Ich wollte dich nicht fortschicken. Aber ich sah darin die einzige Chance, dich vor ihm zu schützen. Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Mich fortschicken?« Anna sah zu Sylva, die ihren Schal noch fester um die knöchernen Schultern zog. Sie nickte, ihr Gesicht ausgemergelt und müde, die Falten noch tiefer als zuvor, als ob sie seit ihrer Ankunft auf dem Friedhof um fünfzig Jahre gealtert wäre. Dann schaute sie wieder zurück zu Rachel. Die Form der Augen, die dunkel geschwungenen Augenbrauen, die geheimnisvollen Gesichtszüge. Alles war genau wie bei Anna.
Genau wie bei Anna.
»Du gehörst zu ihr.« Die Erkenntnis brannte sich tief in Annas Bewusstsein, überrollte sie mit der schleichenden Gewissheit eines Gletschers, traf sie mit einer noch unerträglicheren Härte als der Krebs. Die Wahrheit, die nicht wahr sein konnte, nicht wahr sein durfte, übermannte sie und war umso schockierender, weil das, was eigentlich unmöglich schien, plötzlich bittere Realität war.
Diese Wahrheit ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren, ließ sie erstarren wie der Frost, der noch immer zwischen den Grabsteinen glitzerte.
»Es ist alles meine Schuld«, sagte Rachel. »Ich leide noch immer darunter, der Kummer zerfrisst mich, verfolgt mich, jagt mich durch den Tunnel meiner Seele. Genau diese Angst ist es, warum Ephram mich in der
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