Die Tunnel der Seele
auch nachdem sie ihr Augenlicht verloren hatte, hielt sie sein Geschenk noch oft in ihren Händen und strich mit den Fingern über die Buchstaben.
Eines Tages würde er ein weiteres Wort nur für sie in ein Kunstwerk verpacken: »Träume«.
Für ein so gewichtiges Wort brauchte man aber das passende Material, damit es nicht hölzern wirkt. Etwas Strapazierfähiges wie Bronze oder Kupfer. Vielleicht sogar Granit.
Mit Beil und Queraxt hatte Mason die grobe Form aus dem Klotz gehauen. Durch die schmalen, hohen Fenster im Keller sah er, wie sich der Himmel verdunkelte, wusste aber nicht, ob das bedeutete, dass es bald regnen würde oder dass die Nacht hereinbrach. Schon lange hatte er jegliches Zeitgefühl verloren.
Er nahm nun Meißel und Hammer zur Hand, um das Eichenholz Stück für Stück abzuschaben. Die einzelnen Schichten der Maserung ließen sich mühelos abtragen, so als ob sie es selbst kaum erwarten könnten, endlich zu ihrer wahren Form und Bestimmung zu finden. Viel zu schnell offenbarte sich die Statue und es war kaum zu glauben, dass er so rasch vorwärts kam. Es fühlte sich beinahe so an, als ob sich sein Schaffensdrang im Holz anhäufte, um dann mit geballter Kraft durch das Werkzeug in seine Hände zurückzufließen.
Klar, Mason. Egal, was du denkst. Es geht um künstlerische Freiheit.
Und sieh mal hier, die breiten, kantigen Schultern. Und die Arme, einer quer über den Bauch, der andere hinter dem Rücken. Eine aristokratische Körperhaltung. Ein Mann, der weiß, was er wert ist.
Die ungenutzten Räumlichkeiten im Keller verschluckten den Klang von Metall auf Metall und Metall auf Holz.
Komm und zeig dich, Korban. Ich weiß, dass du da drin bist, irgendwo da drin in diesem gottverdammten Stück Eiche. SING für mich, du wunderbarer alter Bastard. Erwache und beweg dich.
Eine Ladung Sägemehl schleuderte Mason entgegen, direkt ins Gesicht. Instinktiv kniff er die Augen zusammen. Er rammte die Schneide des Meißels an die Stelle neben dem linken Arm der Statue. Ausdauer. Träume.
Er hatte noch ein Wort für Dennis Graves.
Seele.
Wer keine Seele hatte, war verloren. Das Material musste eine Seele haben. Aus einem Stein konnte man keine Seele herausschlagen, wenn keine vorhanden war. Die Seele musste schon immer existiert haben, nur darauf wartend, dass der Künstler sie an die Oberfläche beförderte.
Die Seele atmete, blies ihm aus den vier Ecken des Raumes entgegen. So entstanden Traumbilder. Es waren nicht wirklich neue Ideen oder Visionen, nein, es waren Dinge, die schon existierten, die einfach nur für den menschlichen Geist enthüllt werden mussten.
Okay. Okay. Schluss mit den Flusen im Kopf.
Jetzt ist dein künstlerischer Ehrgeiz gefragt. Dieses ganze Geschwafel nützt dir vielleicht was, wenn du entdeckt worden bist. Du steigerst dich da gerade in etwas hinein und kannst einfach nicht aufhören. Wahrscheinlich hättest du dir mal eine Pause gönnen sollen.
Aber DU KANNST NICHT AUFHÖREN.
Mason runzelte die Stirn und trieb den Meißel in die Flanke der Statue. Seiner Meinung nach war es kein gutes Anzeichen, wenn man anfing, mit sich selbst philosophische Debatten zu führen. Er
sollte
eigentlich in einem Zustand kreativer Trance sein. Er
wollte
es, er suchte danach, er betete zu den Göttern, dass sie ihm die erhofften Träume schickten.
Er betrachtete die Büste von Korban und glaubte ihn lächeln zu sehen. Die hölzernen Lippen öffneten sich: »Warum kannst du denn nicht aufhören?«
Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich nur will.
»Selbstverständlich. Ich glaube dir, Mason.«
Wissen Sie, man kann Kreativität nicht einfach nach Lust und Laune an- und abschalten. Wenn man einmal in der richtigen Stimmung ist, muss man sich gehen lassen. Wenn die Muse zum Tanz auffordert, nimmt man ihre Hand und folgt ihr auf die Tanzfläche.
»Gut, gut. Wir wollen nicht streiten. Aber beweise mir doch, dass du aufhören kannst.«
Okay. Aber ich möchte Sie vorwarnen, dass die Muskeln in meinen Schultern, Armen und Fingern vor Schmerzen schreien werden, denn sie stehen unter einer noch größeren Spannung als die Fäden auf den Garnrollen in der Fabrik. Außerdem tue ich das hier für Mutter und nicht für mich.
»Ausreden, nichts als Ausreden«, erwiderte die Büste.
Ich werde es Ihnen beweisen. Sehen Sie …
Mason drosch wie wild auf den Meißel ein. Ein fünf Zentimeter langes Stück dunkelrotes Holz löste sich von der Stelle, die einmal Korbans linke Kniescheibe sein würde.
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