Die Ueberbuchte
Dagmar.
»Nun ja, wahrscheinlich waren einfach nur die Ziele zu hochgesteckt – eine verfrühte Rechnung, die irgendwie nicht aufgehen konnte«, bemerkte Ernst.
Und mit bekümmerter Miene fügte Dagmar hinzu: »Eigentlich schade, sehr schade sogar, denn diese friedliche Revolution war nun mal etwas ganz Besonderes – etwas, das es in dieser Dimension noch nicht gegeben hat. Mir ist bei den ständigen Berichten damals, immer die Gänsehaut über den Rücken gelaufen.«
»O ja, das war eine turbulente, nervenaufreibende Zeit.«
»Aber doch auch schön für Sie, oder …?«
»Einerseits ja, andererseits auch wieder nicht, denn was nun begann, war, aus heutiger Sicht betrachtet, ein Horror ohne Ende.«
»Wieso denn das?«, wollte Dagmar wissen.
»Das ist ganz einfach zu erklären: wir wurden von einem Tag auf den anderen mit völlig neuen Gesetzen, Vorschriften, Denkweise und Strukturen konfrontiert, und was das bedeutete, brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu erklären – es war ein Chaos ohne Ende. Ein Chaos aber auch, welches direkt dazu animierte, die Situation auf Gedeih und Verderb für sich auszunutzen. Es war ein Chaos auf breiter Ebene, das teilweise schamlos ausgenutzt wurde.«
»Aber doch nicht generell?«, gab Ernst zu bedenken.
»Nein, natürlich nicht, das wollte ich damit auch nicht sagen, denn es gab und gibt sie heute noch, die echte überzeugende Pionierarbeit geleistet haben. Nur wissen wir auch, dass die Negativseite viel eher verallgemeinert wird, als umgekehrt. Der Ehrlichkeit halber muss aber gesagt werden, dass dieses gigantische Projekt der Umstellung von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, wohl nicht ohne Fehler verwirklicht werden konnte. Obwohl, und das dürfte für alle Beteiligten in Ost und West gleichermaßen gelten, sind die Fehler, die jetzt immer noch im großen Stil vollzogen werden, weitaus bedauerlicher – vor allem die daraus resultierenden Folgeschäden. Und die wiederum, wird das jetzt bereits ungesunde Klima zwischen den alten und neuen Ländern auf ein unerträgliches Maß steigern helfen. Allein meine Cousine aus Bayern, die früher immer zu besonderen Feiertagen ein Päckchen geschickt hat, will neuerdings nichts mehr mit uns zu tun haben, und zwar aus folgenden Gründen: Da durch die Einheit, die bis dahin im Westen gut funktionierende Wirtschaft ruiniert worden sei, und wir als primitive Hinterwäldler, uns ausschließlich an ihren sauerverdienten Lohn bereichern würden.«
»Aber gute Frau, solch ein primitives Geschwätz werden Sie doch hoffentlich nicht für bare Münze nehmen? Die gibt es wahrlich immer und überall«, erwiderte Ernst.
»Sicherlich, aber weh tut’s trotzdem.«
»Ach was, anmaßende Dummheit und ungerechtfertigte Vorurteile wird es immer geben, sonst hätte die Intelligenz kein Vorrecht.«
Lena blickte auf, direkt in Ernsts ruhige, helle Augen, die zu sagen schienen; es lohnt sich nicht sich darüber aufzuregen, das Leben ist nun mal so wie es ist.
Dagmar erhob sich. »Ich muss mich jetzt erst einmal um meine Gäste kümmern, die einen Tee mit Honig und Zitrone bei mir bestellt haben. Wahrscheinlich hat sich einer der beiden älteren Damen erkältet.«
»Und ich werde einen kleinen Verdauungsspaziergang unternehmen, auch um die vom vielen sitzen steifen Knochen etwas aufzulockern.«
»Ja, tun Sie das, zumal der Wind jetzt etwas nachgelassen hat. Heute Morgen hat er noch ganz ordentlich geblasen«, meinte Ernst.
»Regnen wird es doch hoffentlich nicht?«, erkundigte sich Lena mit besorgtem Blick zum Himmel hinauf, an dem sich ständig tiefdunkle Wolken mit sonnigen Blau abwechselten.
»Nein, nein, das glaube ich nicht.«
Lena strebte sogleich auf die schmale Bucht zu, die sie von ihrem Fenster aus gesehen hatte. Sie zog die leichten Sandaletten aus, krempelte die Hose hoch und patschte mit wahren Hochgenuss durch das seichte, rhythmisch herangespülte Wasser. Bei kurzzeitigen Sonnenschein heizte sich die Luft schlagartig auf, so dass sie ihre Jacke ausziehen musste, die sie vorsorglich angezogen hatte. Tief sog sie die salzhaltige herbe Luft ein. Schön war es hier in der totalen Abgeschiedenheit, denn bis zu dieser, hinter vorgeschobenen Dünen versteckten kleinen Bucht, verirrte sich anscheinend kaum jemand.
Bei jedem Schritt quoll der lockere Sand weich und warm durch die Zehen. An windgeschützter Stelle dann, ließ sie sich im Sand nieder und streckte die Füße den schäumend heranrollenden Wellen entgegen. Aus der Ferne, da
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