Die Ueberbuchte
die unentwegt um Knut und ihrer gemeinsamen Beziehung kreisenden Gedanken, ließen das nicht zu. Wenigstens hatte sie ein Zugabteil ganz für sich allein, so dass sie ungehindert hätte weinen oder klagen können – niemand hätte das gestört. Sie aber wollte weder das eine noch das andere, sondern nur das eine, dass wieder Ordnung in ihr Leben einkehrte.
Sie lehnte die Stirn an die nächtlich beschlagene, kühle Fensterscheibe und spürte das leichte Vibrieren, das irgendwie unangenehm war. Sie begann zu frösteln, denn die spätsommerlichen Nächte nahmen bereits herbstlichen Charakter an.
Eben fuhr der Zug in einem größeren, hellerleuchteten Bahnhof ein. Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Zurufende Stimmen entfernten sich, die im halblauten Surren der vorbeifahrenden, vollbeladenen Elektrokarren untergingen. Und ehe sie’s noch recht bemerkte, fuhr der Zug in gemächlicher Fahrt in die Dunkelheit hinein.
Irgendwann dann, es dämmerte bereits, wurde ihre Abteiltür aufgestoßen und eine ältere Frau mit ziemlich viel Gepäck stieg ein. Und ohne das Lena ihr größere Beachtung schenkte, versuchte diese überaus vitale Frau, mit aller Macht ein Gespräch mit ihr in Gang zu setzen, was Lena aber damit zu verhindern wusste, indem sie sich draußen im Gang ans Fenster stellte. Es konnte ja nicht mehr lang dauern, bis sie Leipzig erreichten.
Als der Zug dann endlich im Leipziger-Bahnhof einfuhr, überlegte Lena nicht lang, auch wenn ihr Geldbeutel bereits eine überdurchschnittliche Leere aufwies, entschied sie sich dennoch für das Taxi, da sie nur noch von einem Gedanken beherrscht wurde; nach Hause! Nichts als nach Hause!
Doch auch zu Hause wollten die zermürbenden Gedanken kein Ende nehmen. Egal was sie tat und dachte, drängte sich das Gefühl, versagt zu haben beharrlich in den Vordergrund. Immer wieder tauchte Knuts enttäuschtes, zutiefst trauriges Gesicht vor ihr auf, so als wollte er ihr damit verständlich machen; sieh her wie sehr ich leide – leide durch dich!
In der Nacht dann, die erste Nacht wieder zu Hause, in ihren eigenen vier Wänden, in ihrem eigenen Bett, hochgeschreckt vom plastisch wilden Traum, glaubte sie plötzlich die ruhigen Worte ihrer Mutter zu hören, so wie sie damals, als ihre Kinder allmählich erwachsen wurden, zu ihr gesprochen hatte: Kind, du musst lernen loszulassen – je eher du das lernst, je besser für alle Beteiligten.
Plötzlich hellwach, spürte sie, wie die Ruhe in ihr zurückkehrte. Sie wusste nun, sie musste eine Entscheidung fällen – sie musste loslassen, so schwer es ihr auch fallen mochte – loslassen, um Schlimmeres zu verhüten. Endlich war sie wieder sie selbst, und wusste vor allem, wohin letztendlich der Weg führte.
Gleich nach dem Frühstück, hatte sie deshalb Ruth angerufen und sie gebeten im Laufe des Tages bei ihr vorbeizuschauen. Was natürlich angesichts ihres drängens, Ruth unangenehm aufhorchen ließ. Denn sie hatte natürlich unbedingt den Grund wissen wollen, was sie aber schlichtweg ignorierte.
Die Neugier war es dann wahrscheinlich auch, die Ruth zur Eile antrieb, denn schon nach kurzer Zeit klingelte es an Lenas Wohnungstür.
»Ganz so zu beeilen hättest du dich nicht brauchen«, sagte Lena, während sie Ruth hereinließ.
»Nun, du hörtest dich ziemlich ungeduldig an«, erwiderte Ruth. Sie betrachtete Lena sehr genau. »Wo bist du nur die ganze Zeit über gewesen? Ich habe mehrfach versucht dich zu erreichen.«
»Ich war unterwegs.« Sie zauderte, da sie sich unsicher darüber war, ob sie direkt zur Sache kommen sollte oder besser auf Umwegen. Sie entschloss sich schließlich für den direkten Weg und sagte: »Genauer gesagt, ich war einige Tage auf Sylt, bei Knuts Schwester.«
Fast hätte Ruth sie mit offenem Mund angestarrt, so erschrocken war sie. Sie rutschte unruhig im Sessel hin und her und war keines Wortes mächtig.
Lena lächelte mitleidig. »Tja, Ruth, genauso verdutzt, wie du jetzt guckst, habe ich auch geguckt, als Dagmar von deinem Besuch bei ihr erzählte. O ja, meine Liebe, ich war derart entsetzt, dass ich dich in diesen Moment gehasst habe, ja buchstäblich verflucht habe.«
»Es – es war – aber doch gar nichts«, stammelte Ruth.
Wiederum lächelte Lena, diesmal eher nachsichtig beschämt, bevor sie sagte: »Was ich zu diesem Zeitpunkt ja nicht wissen konnte, denn selbst Dagmar teilte meine schlimmsten Befürchtungen.« Sie sah Ruth mit zusammengekniffenen Augen an. »Sei doch mal
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