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Die Ueberbuchte

Die Ueberbuchte

Titel: Die Ueberbuchte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Rawolle
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ganz gut oder ganz schlecht. Ich aber glaube, dass momentan die nur überwiegend goldgefärbten Erinnerungen aus Ihnen sprechen. Denn Erinnerungen, noch dazu Kindheitserinnerungen, haben längst ihre grauen, zumeist unschönen Schatten, mit weit sonnigeren, hellen Farben kaschiert, und verleiten all zu leicht zu Halbwahrheiten. Gut, Ihr Eindruck von damals in allen Ehren, jedoch auf die heutige Zeit gemünzt, kaum noch nachvollziehbar. Oder wie anders wäre sonst Ihr Alleinsein zu verstehen?«
    »Ich sehe schon«, bemerkte Knut naserümpfend, »Sie lieben klare, unverfälschte Linien – ohne jeden Schnörkel und ohne jede Bekehrung.«
    Lena musterte ihn verwundert von der Seite. »Bekehrung …? Wollten Sie das etwa?«
    »Vielleicht.« Und er lachte plötzlich, für Lenas Begriffe etwas zu laut. »Es geht ja weniger um die Tatsache, dass ich, und nun auch Sie, allein leben, es geht vielmehr darum, dass wir das anscheinend auch noch gewollt haben, es sogar gut und richtig finden – und genau das beginnt mich allmählich zu stören. Früher, o ja, da fand ich das sogar besonders clever, wenn nicht gar toll – irgendwie abgehoben, über den Dingen zu stehen; falls Sie wissen was ich meine?«
    »Natürlich weiß ich was Sie meinen – schließlich habe ich gerade erst damit begonnen. Was Ihnen nun allmählich lästig erscheint, bedeutet für mich noch reinste Lebensfreude – so unterschiedlich können Lebensvorstellungen empfunden werden.«
    »Und Sie glauben nicht, dass Sie sich möglicherweise doch irren könnten?«
    »Nein, das bestimmt nicht!«, kam es ohne zu zögern über ihre Lippen.
    Hinter ihnen wurden plötzlich interessierte Fragen laut: »Ist das rechts da drüben Rom?«, wollten nun einige Fahrgäste etwas genauer wissen.
    »Ja, das ist Rom, die geschichtsträchtige, heilige Stadt Rom«, sprach Knut in das Mikrofon hinein. »Außerdem, wenn wir einigermaßen Glück haben und ohne größeren Stau durch Neapels Innenstadt gelangen, könnten wir in gut zwei Stunden auf der Fähre sein. Da wir aber mit der großen Fähre übersetzen müssen und nicht mit dem wesentlich schnelleren Tragflächenboot, dauert die Überfahrt natürlich etwas länger. Wie ist es, sollen wir vorher noch eine kurze Unterbrechung einlegen, oder durchfahren?«
    »Durchfahren!«, erklang es fast einstimmig.
    Mit zurückgelehnten Kopf betrachtete Lena nachdenklich die sonnenüberflutete Landschaft, und ohne den Kopf zur Seite zu wenden, sagte sie: »Eigentlich schon unglaublich, dass uns auf einmal die gesamte Welt offensteht – einfach unfassbar … Und dennoch kann ich nicht daran glauben, dass es auch nur einen einzigen Menschen gegeben haben könnte, der diesen totalen Zusammenbruch vorauszusehen vermochte. Wahrscheinlich nicht einmal die engsten Mitarbeiter der Regierung. Und wer das behauptet, lügt entweder, oder will sich nur wichtig machen.«
    »Nun ja, etwas plötzlich kam dieser Zusammenbruch schon«, warf Knut bedenkend ein.
    »Gott, ein solcher Umschwung kann schließlich nur schnell erfolgen, oder aber gar nicht; sozusagen, entweder oder! Was mich aber in letzter Zeit immer mehr zu ärgern beginnt, ist die unglaubliche Vergesslichkeit der Menschen.« Sie spürte seinen fragenden Blick und gab der Stimme noch etwas mehr Gewicht. »Jawohl, Knut, Sie haben schon recht gehört; die Vergesslichkeit! Kaum schreiben wir das Jahr 94, und schon kann sich kaum einer mehr erinnern – höchstens an die Dinge, die angeblich so viel besser waren. Natürlich war nicht alles nur schlecht! Nun gut, so wie man es heute oft darzustellen versucht, war es auch nicht. Natürlich hatten wir alle Arbeit, und sogar ein halbwegs abgesichertes Leben. Aber unter welchen Bedingungen denn? Nun könnte man vielleicht sagen, besser solche Bedingungen als die jetzigen. Dann würden wir uns aber selbst belügen, denn der Wunsch nach etwas mehr Wohlstand und angemesseneren Lebensverhältnissen bewegten alle gleichermaßen. Und obwohl heute, darüber bin ich mir ganz sicher, sich keiner mehr nach den alten Lebensverhältnissen sehnt, erscheint es den meisten doch wesentlich einfacher; besser nach dem Mund zu reden, als etwas Falsches zu sagen. Natürlich hätte manches ganz anders verlaufen müssen – doch jetzt ewig nur herumzujammern, macht gleich gar keinen Sinn.«
    »Bitte, Lena, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was außer der vielgerühmten Vollbeschäftigung und billigen Mieten, besser als bei uns

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