Die Ueberbuchte
Bemerkenswerteste an dieser grün bewaldeten Bergregion, waren unbestritten die kleinen hellen Ortschaften auf scheinbar unberührter Höhe. Eine überaus freundliche Landschaft.
Bisher hatte Lena im Schauen versunken geschwiegen, jetzt aber, da sich die Täler zu beiden Seiten hin öffnend ausbreiteten, sagte sie langsam, noch vom Eindruck überwältigt: »Eine gänzlich andere Welt …! Völlig anders als die bayerischen und Tiroler Alpen – irgendwie sanfter – eben anders …«
Knut, dessen Blick geradeaus auf die Straße gerichtet war, lächelte nur still vor sich hin. Er legte eine neue Musikkassette ein und pfiff die Melodie leise mit.
Die Mittagssonne strahlte indes unbarmherzig vom hohen Zenit herab, so dass die Ventilatoren der Klimaanlage auf vollen Touren arbeiten mussten. Vom angestrengten Schauen ermüdet, dösten die meisten Leute erschlafft vor sich hin. Selbst Knut fing an zu gähnen. »Kaffee ist wohl keiner mehr da?« wollte er daher wissen.
»Nein«, erwiderte Lena. »Aber ich hatte schon am Vormittag vorsorglich Ihre Thermosflasche gefüllt.«
Ein schneller verwunderter Blick traf sie. »Also doch der ›Bemutter-Instinkt‹?«
»Vielleicht«, lächelte sie schwach.
Wiederum traf sie ein schneller fragender Blick, aber er sagte nichts. Er trank gierig von dem heißen Kaffee und verzog erschrocken den Mund. »Der ist vielleicht heiß …«
»Soll ich etwas mehr Milch zugießen?«
»Ja, bitte!«
Sie reichte ihm den Becher wieder hin: »So, jetzt dürfte er gerade richtig sein.«
»Normalerweise trinke ich lieber Tee als Kaffee«, bemerkte er beiläufig.
»So so.« Und nach einer kurzen Pause erkundigte sie sich: »Wie war das gleich noch, Sie stammen aus Bremen, nicht wahr?«
»Ja, ich wohne dort, aber geboren bin ich in Jütland, Dänemark, unmittelbar an der deutschen Grenze.«
»Ah, interessant! Und warum sind Sie nicht in Ihrem Geburtsland geblieben?«
»Ganz einfach, weil der elterliche Hof nicht alle Familienmitglieder hätte ernähren können, so erbte nach dem Tod meines Vaters mein ältester Bruder den Hof.«
»Dann haben Sie also noch mehr Geschwister?«
»Ja, drei Brüder und eine Schwester.«
»Eine Großfamilie also.«
»Hm, schon …« Auf seiner Stirn bildete sich eine senkrechte, tiefe Falte, die Lena schon öfters bemerkt hatte, wenn er besonders nachdenklich oder sich mit etwas nicht einverstanden erklären konnte. Nun aber fuhr er fort, wenn auch etwas stockend: »Leider liegt das alles schon reichlich weit zurück – bloße Erinnerung – weiter nichts … Eigentlich verbindet mich nur noch mit meiner Schwester und Arne, meinem zweitältesten Bruder, eine lose Verbindung – und die auch nur höchst oberflächlich.«
»Demnach lebt Ihre Mutter auch nicht mehr?«
»Doch, doch, ich habe sie erst neulich besucht.« Sein Gesicht verdüsterte sich, wurde traurig. »Sie ist plötzlich sehr gealtert, ungeheuer gebrechlich geworden.« Seiner Stimme war die Betroffenheit anzumerken; er war bewegt.
Lena spürte das und schwieg.
Es dauerte lang, bis Knut sich ihr wieder zuwandte: »Wissen Sie, Lena, etwas werde ich nie ganz verstehen, wieso schafften es die Leute früher, und zum Teil in anderen Ländern auch heute noch, dass verschiedene Generationen friedlich unter einem Dach leben können und heute will das einfach nicht mehr funktionieren?«
»Ich weiß …« Sie zögerte und vermied es ihn anzusehen. »Darüber habe ich auch schon wie oft nachgedacht. Nun, vielleicht war es wirklich nur eine Folgeerscheinung der damals unzulänglichen Lebensweise. Denn dieses, aus drastischen Mangelerscheinungen heraus, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen zu sein, kommt immer seltener vor. Mit anderen Worten; die materielle Unabhängigkeit macht’s möglich. Außerdem bieten die ärmeren Länder heute noch das beste Beispiel dafür, dass der traditionelle Familienclan nach wie vor Bestand hat.«
Knut wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Sicherlich, nur haben Sie etwas Entscheidendes vergessen; die Religion!«
»Nun ja, hm …«, nickte Lena widerstrebend.
»Trotzdem, Lena, finden Sie nicht auch, dass das auf einer gewissen Weise schade ist? Wenn ich mich zum Beispiel an meine Kindheit zurückerinnere, so empfinde ich auch heute noch, dass diese Gemeinsamkeit, dieses alle unter einem Dach befindliche, eine wohltuend, zum Teil aufregende und schöne Sache darstellte.«
»Warum auch nicht! Kindheitserinnerungen sind, wie wir alle wissen, immer entweder
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