Die Ueberbuchte
Glanz.
»Wie ist das«, drehte sich seine Schwester beim Verlassen des Zimmers nach ihm um, »hast du dir für heute Abend bereits etwas vorgenommen?«
»Nein.« Er grinste argwöhnisch. »Solltest du dabei auf meinen vermeintlichen Lebenswandel anspielen, so muss ich dich enttäuschen, mein Arzt hat mir strengste Enthaltsamkeit verordnet – was immer du darunter verstehen magst.«
»Oh, ich werde mich hüten etwas Bestimmtes darunter verstehen zu wollen«, gab sie lächelnd zurück.
Da Ernst am Abend noch wie zufällig verkündete, dass er am nächsten Morgen, bei hoffentlich guten Wetter, mit seinem Motorboot zur Insel Föhr fahren wollte, da konnte Knut gar nicht anders, als ihn um seine Mitnahme zu bitten. – Denn er erinnerte sich plötzlich, dass er vor vielen Jahren, mit Freunden zusammen mehrere Inseln besucht hatte; unter anderem auch Föhr, Amrum, sowie weitere kleinere Inseln. Er überlegte krampfhaft, das musste ja mehr als zwanzig Jahre zurückliegen, denn damals, daran erinnerte er sich noch genau, war ein bildhübsches Mädchen an Bord, eine Touristin aus Kopenhagen, und weil er der Einzige der Truppe war, der fließend dänisch sprechen konnte, konnte er seine Heimfortteile ungehindert geltend machen.
Als Knut am frühen Morgen dann, bei steigender Flut das gut ausgerüstete Boot bestieg, konnte er sich eines sonderbar rührseligen, ja ungemein vertrauten Gefühls kaum erwehren. Der herbe Geruch, die lauten Schreie der Möwen und das gleichmäßige Plätschern der Wellen, all das verursachte eine anheimelnde, längst vergangene Vertrautheit.
Stumm nahm er seinen Platz zwischen Fischernetzen, Blechkanistern, Angelzeug und sonstigen umherliegenden Gebrauchsgegenständen ein. Und stumm ließ er seinen hellwachen Blick in die Runde schweifen. Das tat vielleicht gut, diese morgendliche Ruhe, diese scheinbare Verschlafenheit. Denn noch waren kaum Leute unterwegs, einerseits wegen der Frühe und andererseits wegen der Jahreszeit, denn die Saison hatte noch nicht begonnen. In wenigen Wochen schon, dürfte es weitestgehend mit der angenehmen Stille vorüber sein.
»Da, siehst du, wie der Morgendunst sich hebt, das kann nur einen klaren Tag bedeuten«, zeigte sein Schwager mit ausgestreckten Arm auf die ruhige See hinaus.
Knut nickte und beobachtete weiterhin mit einer schier kindlichen Freude die sanft gekräuselte See. Ein Glitzern und ein Schimmern, da wo sich die ersten Sonnenstrahlen auf graugrünen Wasser brachen.
Erst als sie sich gemächlich einer schmalen Einbuchtung im Norden der Insel näherten, sagte Knut: »Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, jemals ein solches Glücksgefühl bei einer so simplen Bootsfahrt erlebt zu haben, wie am heutigen Tag.«
Ernst lächelte, nicht etwa triumphierend, wie man hätte annehmen müssen, nein, eher nachsichtig, wissend. »Es sind die Jahre, die Entfremdung, die beim Erinnern eine gewisse melancholische Freude erzeugen. Mir erging es ähnlich, als ich nach vielen Jahren, genau an dieser Stelle hier, plötzlich meiner Kindheit wiederbegegnete.«
»Was denn, du bist nicht auf Sylt geboren?«
»Nein, hier auf Föhr.« Er tat erstaunt. »Hast du denn das nicht gewusst?«
»Nein.« Erst nach einer Weile, fügte Knut abwesend hinzu: »Genau genommen weiß ich überhaupt nichts über dich …« Und als er keine Antwort bekam, fuhr er stockend fort, so als habe es ihm die größte Mühe gekostet, um die rechten Worte zu finden: »Unsere Welten – zumindest was ich dafür hielt, lagen wohl auch meilenweit auseinander – wenigstens berührten sie sich nicht.«
»Ach, die Berührung ist, denke ich mal so, immer vorhanden, nur die Bereitschaft dafür nicht.«
»Dann stimmt es wohl auch nicht, dass du deine Eltern gar nicht gekannt hast?«
»Nun ja …«, er zögerte, »so richtig erinnern konnte ich mich wirklich nicht. Es war mehr wie ein verschwommener, unwirklicher Traum. So sehr ich mich auch bemühte, mein Hirn buchstäblich marterte, es blieb bei einer konturlosen Vision, und dennoch spürte ich bei der ersten direkten Berührung mit meiner Vergangenheit, eine unglaubliche Vertrautheit, eine Verbundenheit, die mich anfangs mehr ängstigte als freute. Dieses lebendige Gefühl, zu sehen, wo es in Wirklichkeit nicht zu sehen gab, verstörte mich irgendwie – es war einfach nicht greifbar. Nur der Güte und Weisheit meines Onkels war es zu verdanken, dass sich meine überempfindliche Kinderseele frühzeitig in sich selbst zu festigen verstand –
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