Die Ueberbuchte
wüsstest«, fuhr sie zaghaft fort, »wie sehr ich unter dieser verdammten Einsamkeit leide! Es gibt Tage, da möchte ich am liebsten überhaupt nicht mehr aufstehen. Wozu auch? Wozu noch leben? – Für wen …? Für was eigentlich? Es interessiert doch eh keinen mehr. Oder glaubst du etwa, dass auch nur einer mir eine Träne nachweinen würde? Wer wohl …? Etwa meine Tochter …? Das kannst du vergessen – der Schmerz würde keinen Tag andauern.«
Erschrocken über diesen totalen Stimmungswechsel, fuhr Lena sie ärgerlich an: »So etwas, Ruth, sagst du mir nie wieder, oder ich will nichts mehr mit dir zutun haben! Nein wirklich, Ruth, du versündigst dich, besonders deiner Tochter gegenüber. Auch wenn du den Tod deines Mannes noch immer nicht verwunden hast, so gibt dir das lang noch kein Recht, ungerecht zu sein – und schon gar nicht deiner Tochter gegenüber. Nun ja, ich räume ein, dass möglicherweise beim Anblick des jungen Glücks deiner Tochter, deinen geheimen Schmerz, deine Einsamkeit, ins Unermessliche steigen lässt; doch die Zeit wird auch das heilen – das kannst du mir wirklich glauben.«
»Du hast gut reden, du mit deiner Selbstverständlichkeit!«, sagte Ruth mit schwankender Stimme, sie wischte sich verstohlen die Tränen ab und sah Lena unverhohlen anklagend an. »Du hast schließlich deinen Weg selbst gewählt; er wurde dir, nicht wie mir, vom Schicksal aufgezwungen. Außerdem hast du von jeher rigoros deinen Kopf durchgesetzt, auch wenn du es nie wahrhaben wolltest. Mit einem Wort, wir sind so grundverschieden, wie nur irgend möglich. Ich kann einfach nicht so wie du leben. Und das Schlimme daran ist, ich will es auch nicht.«
»Wer sagt denn, dass du wie ich leben sollst?! Kein Mensch verlangt das von dir, und ich am allerwenigsten. Außerdem, Ruth, stimmt es schon mal gar nicht, dass ich mich von jeher durchgesetzt habe. Im Gegenteil, ich habe ja nicht einmal bemerkt, wie sehr ich mich in Wirklichkeit allem untergeordnet habe; sozusagen, nur für meine Familie gelebt, ohne dabei auf meine eigenen Interessen zu achten, geschweige ihnen nachzugehen. Und was unsere Verschiedenheit betrifft, liebe Ruth, so musst du doch zugeben, die hast du doch erst jetzt bemerkt – früher wäre dir garantiert nichts dergleichen aufgefallen.«
»Sag das nicht! Mir ist das schon aufgefallen, nur störte mich das anscheinend nicht; jetzt aber stört es mich. Anstatt einer heilsamen Aufmunterung, bewirkt deine Selbständigkeit eher das Gegenteil; es macht mich krank, schlichtweg krank. Und das Schlimmste daran ist, ich weiß mich nicht dagegen zu wehren. Mein Leben ist nichts anderes mehr, als ein vollkommen sinnloses, ganz und gar verkorkstes Leben. Wobei meine Tochter, mir neuerdings immer öfters unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie meiner Hilfe nicht bedarf, ja mitunter sogar als lästig empfindet. Was also will ich dann noch hier?«
Lena drückte mitfühlend Ruths Hand. »So schlimm ist das also.« Sie überlegte angestrengt, aber kein einziges Wort schien ihr ausreichend genug zu sein, um wirklich Trost zu spenden. So sagte sie nur, obwohl es ihr selbst reichlich banal in den Ohren klang: »Wieso eigentlich so hoffnungslos? Wer sagt dir denn, dass alles schon zu Ende sein muss? Ein neues Glück zum Beispiel, und somit einen Neuanfang, das wäre doch ohne weiteres drin, oder etwa nicht?«
»Ich bitte dich, Lena, in meinem Alter! Außerdem scherzt man mit so etwas nicht.«
»Scherzen …? Im Gegenteil, mir war noch nie ernsthafter zumute, wie gerade jetzt.« Plötzlich klatschte Lena vergnügt in die Hände: »Das müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich das nicht ändern ließe!«
Ruth schüttelte resigniert den Kopf. »Das ist zwar alles gut gemeint, und ich bin auch Dankbar für deine Anteilnahme, aber bitte, dabei belassen wir es am besten auch. Denn was ich am aller wenigsten brauchen kann, das sind irgendwelche sinnlose Hoffnungen – die frustrieren mehr, als dass sie helfen.«
Ohne noch weiter darauf einzugehen, zeigte Lena auf das rote Packsteinhaus am Ende der Straße. »Das ist das Haus das du gemeint hast, nicht wahr?«
Ruth nickte.
»Äußerlich scheint aber nichts verändert worden zu sein.«
»Nein, nur innen«, bemerkte Ruth einsilbig.
Schweigend näherten sie sich dem Haus. Nur Lena sah sich des Öfteren interessiert nach allen Seiten um. »Ich war schon lang nicht mehr in dieser Straße – eine etwas einsame Gegend für ein Restaurant, findest du nicht
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