Die Ueberbuchte
hob Lena unwillig die Augenbrauen, und fast hätte sie etwas erwidert, ließ es aber dann doch bleiben. Nun, sie wollte auf gar keinen Fall einen erneuten Stimmungswechsel riskieren. Denn eines stand fest, Ruth schien im Augenblick äußerst labil zu sein. So wurde sie auch weiterhin das Gefühl nicht mehr los, dass schon bei der kleinsten, noch so ungewollten Äußerung, ihre derzeitige lockere Stimmung, schlagartig ins Gegenteil umschlagen könnte. Und gerade dieses ständig auf der Hut sein zu müssen, verursachte dann am ehesten eine Fehlreaktion.
Plötzlich stützte Ruth den Kopf schwer auf beiden Händen auf und murmelte undeutlich: »Mir ist schlecht.« Und schon stand sie überhastet auf, stolperte dabei heftig über den Stuhl, so dass Lena sie gerade noch rechtzeitig festhalten konnte. Mit der einen Hand das Taschentuch fest gegen den Mund gepresst und mit der anderen Hand an Lenas Arm festgekrallt, gingen sie zur Toilette.
Vollkommen erschöpft, mit grauen fahlen Gesicht, ließ sich Ruth wenig später ächzend auf den runden Hocker im Waschraum nieder und lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen gegen die kühle, geflieste Wand.
Lena tupfte mit einem Papiertaschentuch vorsichtig die Spuren von Erbrochenen von Ruths fliederfarbenen, guten Kleid ab. »Bitte, Ruth, bleib einen Augenblick hier sitzen, ich gehe nur schnell bezahlen und lasse uns ein Taxi rufen.«
Ruth nickte unmerklich.
Kaum hatte Lena die Toilette verlassen, da kam ihr auch schon der Kellner mit besorgtem Gesicht entgegen. »Ihrer Begleiterin geht es wohl nicht gut? Kann ich vielleicht helfen?«
»Ja, rufen Sie ein Taxi, und die Rechnung bitte.«
Mit einer knappen Kopfbewegung gab er sofort die Anweisung an seine Kollegin hinter dem Tresen weiter. Er selbst händigte indes die Rechnung an Lena aus. So dauerte es nur wenige Minuten und schon war sie wieder bei Ruth, deren fahle Blässe etwas nachgelassen hatte. Behutsam versuchte sie nun mit stützenden Arm, Ruth zum Ausgang zu geleiten. Da hielt auch schon das Taxi unmittelbar vor ihnen an.
»Fahren wir zu dir oder zu mir?«, fragte Lena.
»Zu mir«, hauchte Ruth.
Wenigstens dauerte die Fahrt nicht allzu lang, denn Lena beobachtete immer besorgter die leblos erscheinende Gestalt an ihrer Seite.
Beim Aussteigen jedoch, bot sogleich der Taxifahrer, ein kräftiger Mann mittleren Jahrganges, hilfsbereit seine Unterstützung an. So brachte er mit sorgsamem Geschick, Ruth wohlbehalten bis zu ihrer Wohnungstür im zweiten Stock des veralteten Reihenhauses.
Lena war vorausgegangen, um die Wohnungstür aufzuschließen.
»Gute Besserung noch!«, rief der Taxifahrer und eilte die Treppe hinab.
Während Lena in der Küche einen geeigneten Tee zubereitete, lag Ruth langausgestreckt, mit geschlossenen Augen auf der Couch im Wohnzimmer. Sie öffnete auch nicht die Augen, als Lena mit dem Tee in der Hand an die Couch herantrat. Sie lag völlig apathisch da, ohne jedes Leben.
Lena überlegte, sollte sie nicht vielleicht doch besser einen Arzt hinzuziehen, oder war wirklich alles nur auf den reichlichen und vor allem ungewohnten Alkoholgenuss zurückzuführen? Aber noch während sie überlegte, öffnete Ruth langsam die Augen – Augen, die wie ihr gesamter Körper, gebrochen, geradezu leidend wirkten. Sie beugte sich leicht vor und fragte sanft: »Geht es dir wieder etwas besser?«
»Ja. – Es tut mir leid – ich bin eben – zu nichts mehr nütze«, stammelte Ruth unter Tränen.
Lena setzte sich zu ihr und streichelte ihre Hand. »Das ist doch grober Unfug, Ruth! Ich sehe schon, ich muss in Zukunft wieder besser auf dich aufpassen, damit du nicht mehr so viel Zeit zum Grübeln hast. Es geht doch nicht an, dass so eine liebenswerte, tüchtige und vor allem attraktive Frau in den besten Jahren, wie du es bist, laufend solch einen Unsinn erzählt. Du wirst schon sehen, in absehbarer Zeit wirst du dich nur noch höchst ungern an deine jetzige Niedergeschlagenheit erinnern – das verspreche ich dir.«
Ruth versuchte zu lächeln, es glich jedoch mehr einer Grimasse, aber immerhin ein erster Versuch.
»Ich bin müde«, flüsterte Ruth und drehte den Kopf zur Seite.
Unschlüssig, nicht genau wissend was sie tun sollte, blieb Lena an Ruths Seite sitzen, wobei sie irgendwann auch eingeschlafen sein musste, denn als sie erwachte, blickte Ruth sie mit großen, klaren Augen an.
»Du meine Güte, ich habe ja geschlafen!«, fuhr Lena erschrocken in die Höhe. Und wie freute sie sich, als sie Ruths
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