Die Überlebenden der Kerry Dancer
Schmelzofen von Strapazen und harten Erfahrungen, umgeschmolzen und in eine völlig veränderte Form gegossen worden war: aus dem unentschlossenen, unsicheren Knaben war ein harter und entschlossener Mann geworden, der ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten in sich entdeckt hatte, ein Mann, den bei sich zu haben eine gute Sache war.
Ein oder zwei Minuten vergingen schweigend, in einer Stille, in der nichts zu hören war als das leiser werdende Geräusch ihres Atems und das Tropfen der Feuchtigkeit in den Zweigen der Bäume. Doch dann spannten sich plötzlich Nicolsons Muskeln, und seine rechte Hand streckte sich aus, um Vannier warnend an der Schulter zu berühren. Die Warnung war unnötig. Auch Vannier hatte es gehört, zog seine Beine unter den Bauch und kam vorsichtig und geräuschlos hoch. Im nächsten Augenblick standen beide hinter dem Baum und warteten.
Das Stimmengemurmel und das Geräusch leiser Schritte auf dem weichen Boden des Dschungels kam beständig näher, doch von den Sprechern selbst war noch nichts zu sehen, da der Pfad, knapp zehn Meter von ihrem Baum entfernt, einen Bogen machte. Nicolson sah sich rasch um nach einer besseren Möglichkeit, sich verborgen zu halten, fand aber nichts. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als hinter diesem Baumstamm die Dinge abzuwarten. Die Männer, die sich da näherten – es hörte sich an, als seien es nur zwei –, konnten möglicherweise Japaner sein. Nicolson entsicherte seinen Colt. Noch vor einem Monat hätte es ihn geschaudert bei dem Gedanken, aus dem Hinterhalt auf einen Ahnungslosen zu schießen – vor einem Monat. Plötzlich waren die herankommenden Männer um die Biegung des Weges herum und deutlich zu sehen: drei, nicht zwei, und bestimmt keine Japaner, wie Nicolson erleichtert feststellte. Erleichtert und überrascht: er hatte unbewußt entweder Japaner erwartet oder aber Eingeborene, angetan mit dem Minimum an Kleidung, das das Klima erforderte, und ausgerüstet mit Speeren oder Blasrohren. Zwei dieser Ankömmlinge aber waren bekleidet mit blauen Leinenhosen und verblichenen blauen Hemden. In einem noch erschreckenderen Gegensatz zu seiner vorgefaßten Meinung stand das Gewehr, das der älteste der drei Männer trug. Doch der Colt in Nicolsons Hand blieb dennoch unbeweglich. Als die Männer bis auf drei Schritte heran waren, trat Nicolson hinter dem Baum hervor auf die Mitte des Weges hinaus, hob die Pistole und richtete ihren Lauf auf die Brust des Mannes mit dem Gewehr.
Der Mann mit dem Gewehr war rasch. Er verhielt mitten im Schritt, die braunen Augen unter dem Strohhut richteten sich auf Nicolson, und die lange Schnauze des Gewehres kam mit einem Schwung hoch. Doch der junge Mann an seiner Seite war noch rascher. Seine nervige Hand schnellte vor wie ein Blitz und drückte den Lauf des Gewehres wieder nach unten, während er mit scharfen Worten dem anderen, der ihn überrascht und ergrimmt ansah, irgendeine Erklärung gab. Der ältere Mann nickte bedächtig, sah beiseite und ließ das Gewehr sinken, bis die Mündung fast den Boden berührte. Dann brummte er dem jüngeren Mann irgend etwas zu; der nickte und richtete seine Augen, feindliche Augen in einem glatten, beherrschten Gesicht, auf Nicolson.
»Begrijp U Nederlands?«
»Holländisch? Nein, tut mir leid, das verstehe ich nicht.« Nicolson zog die Schultern hoch in der Geste des Nichtverstehens und sah dann kurz zu Vannier hin. »Nehmen Sie ihm das Gewehr ab, Vierter. Von der Seite.«
»Englisch? Sie sprechen englisch?« sagte der junge Mann langsam und zögernd. Er musterte Nicolson mißtrauisch, doch nicht mehr feindselig, dann richtete er den Blick auf die Stelle, die ungefähr fünf Zentimeter über Nicolsons Augen lag, und plötzlich lächelte er. Er sprach in seiner unverständlichen Sprache rasch auf den älteren Mann ein und sah dann wieder zu Nicolson hin. »Ich meinem Vater erzählen, daß Sie sein Englisch. Ich kenne Mütze. So ich weiß, daß Sie sein Englisch.«
»Das da?« fragte Nicolson und deutete mit dem Finger auf das Abzeichen vorn an seiner Dienstmütze.
»Ja. Ich leben in Singapur« – er deutete mit der Hand irgendwo nach Norden – »fast zwei Jahre lang. Ich oft sehen englische Offiziere von Schiffen. Wieso Sie kommen hierher?«
»Wir brauchen Hilfe«, sagte Nicolson unumwunden. Sein erster Impuls war gewesen, Zeit zu gewinnen, das Terrain zu sondieren, doch irgend etwas im Ausdruck der ruhigen, dunklen Augen des jungen Mannes veranlaßte ihn, es sich
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