Die Überlebenden der Kerry Dancer
Schuld nur bei sich selbst, dabei war ihm wirklich nichts vorzuwerfen. Den schweren Stein, der ihn an der Stirn traf und bewußtlos umfallen ließ, hatte er nicht eher entdeckt, als bis er ihn, aus seiner Ohnmacht erwachend, neben sich liegen sah. Kein Mensch kann ununterbrochen gleichzeitig drei andere im Auge behalten. Die übrigen waren machtlos gewesen, denn der zusammengefaßte Angriff war sorgfältig geplant, und die einzige vorhandene Schußwaffe, den Karabiner des Brigadiers, hatte sich Siran in dem Augenblick geschnappt, als McKinnon umfiel. Siran und seine beiden Männer seien, so erklärte McKinnon, in nordöstlicher Richtung abgehauen.
McKinnon riet ihnen nachzusetzen, und Nicolson war gleichfalls dafür, da ihm klar war, daß Siran, lebend und auf freiem Fuß, eine potentielle Gefahr darstellte, ganz gleich, wo er war. Doch Telak widersprach entschieden. Zunächst einmal sei es so gut wie ausgeschlossen, die drei Männer im Dschungel zu finden, meinte er; und außerdem sei der Versuch, im Dschungel nach einem Mann zu fahnden, der mit einer Schnellfeuerwaffe im Hinterhalt liegen konnte, eine sehr schnelle Methode, Selbstmord zu begehen. Nicolson mußte dieses Veto eines Dschungelexperten als berechtigt anerkennen und führte seine Begleiter hinunter an den Strand.
Kaum zwei Stunden später trafen die letzten Träger mit den Tragbahren auf Trikahs ›Kampong‹ ein – der Lichtung im Dschungel, auf der die Hütten des Dorfes standen. Es waren kleine, schmächtige Männer, aber von einer erstaunlichen Ausdauer. Die meisten Träger hatten den ganzen Weg zurückgelegt, ohne auch nur einmal eine Pause zu machen oder abgelöst zu werden.
Trikah, der Häuptling, hielt alles, was er versprochen hatte. Alte Frauen wuschen und säuberten eiternde Wunden, bestrichen sie mit kühlenden, lindernden Pasten, bedeckten diese mit großen Blättern und banden das Ganze mit Baumwollfäden zusammen. Danach bekamen alle zu essen, und zwar großartig. Genauer gesagt, man setzte ihnen eine außerordentlich reichhaltige und vielfältige Mahlzeit vor: junge Hähnchen, Schildkröteneier, Reis, Garnelen, Obstmarmeladen, gekochte Süßwurzeln und getrockneten Fisch. Doch der Hunger war ihnen längst vergangen, sie hatten allzulange gehungert, um mehr tun zu können, als den Herrlichkeiten, die man ihnen auftischte, versuchsweise zuzusprechen. Was ihnen nötiger war als alles andere, war nicht Nahrung, sondern Schlaf, und den bekamen sie bald. Es gab keine Betten, keine Hängematten, keine weichen Lager aus Zweigen oder Gras; nichts als Kokosmatten, die auf die sauber gefegte Erde am Boden einer Hütte gebreitet waren. Das war genug, war mehr als genug, ein Paradies für Menschen, die schon so lange ohne Schlaf gewesen waren, daß ihre müden Gehirne sich nicht mehr erinnern konnten, wie lange. Sie schliefen wie Tote, versanken so tief im bodenlosen Schlaf der Erschöpfung, daß kein Weckruf sie zu erreichen vermochte.
Als Nicolson wach wurde, war die Sonne längst untergegangen, und die Nacht hatte sich über den Dschungel gesenkt. Eine lautlose, schweigende Nacht und ein lautloser, schweigender Dschungel. Kein Äffchen schnatterte, kein Nachtvogel rief, alles lag lautlos und leblos, nichts als Stille und Dunkelheit. Auch im Innern der Hütte herrschte lautlose Stille, doch es war nicht dunkel: an Stangen in der Nähe des Eingangs hingen zwei flackernde Öllampen.
Nicolson hatte in tiefem, bewußtlosem Schlaf gelegen, und er hätte auch sicher noch stundenlang weitergeschlafen, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte. Doch er war nicht von allein erwacht. Er wurde wach durch einen stechenden Schmerz, der ihn selbst in der traumlosen Tiefe seines Schlafes erreichte; es war ein unverständlicher, unbekannter Schmerz, der ihm durch die Haut drang, kalt und scharf und schwer: was ihn wachwerden ließ, war ein japanisches Bajonett, dessen Spitze an seiner Kehle saß.
Das Bajonett war lang und scharf und widerwärtig, seine eingeölte Oberfläche schimmerte bösartig in dem flackernden Licht. Die Blutrinne, die daran entlanglief, wirkte aus dieser Nähe gesehen wie ein tiefer Graben mit metallenen Wänden. Durch Nicolsons halbwaches, nichts begreifendes Bewußtsein huschten üble Bilder von Blutbad und Massengrab. Und dann verschwand der Film, der über seinen Augen gelegen hatte, und Nicolson ließ seinen Blick fasziniert und angewidert die blinkende Länge des Bajonetts entlangwandern, hinauf zu dem Lauf des Gewehres und der
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