Die Überlebenden der Kerry Dancer
Tag über hatten sie hilflos in der Flaute gelegen, nicht mehr als fünfundzwanzig Meilen von der Insel Lepar entfernt. Am späten Nachmittag war von Westen her ein langsames, schwerfälliges Wasserflugzeug aufgetaucht – möglicherweise sogar dasselbe, dem sie schon früher begegnet waren – hatte fast eine Stunde lang über ihnen seine Kreise gezogen, sich dann aber wieder entfernt, ohne irgendeinen Versuch zu unternehmen, sie zu belästigen. Die Sonne sank gerade ins Meer und eine schwache Brise kam auf, wiederum aus Norden, als ein zweites Flugzeug auftauchte, wiederum aus Westen, das in rund neunhundert Meter Höhe auf sie zukam. Diesmal kein Wasserflugzeug, sondern ein Jäger, der nicht gewillt war, sich bei der Vorrede aufzuhalten. Als er bis auf eine knappe Meile heran war, nahm er die Nase nach unten und stieß mit heulendem Motor herab, während seine beiden Bordkanonen wie mit roten Messern in die zunehmende Dämmerung stachen, die Geschosse klatschend auf das Wasser schlugen und über die glatte Oberfläche der See zwei parallele Striche aus spritzendem Gischt zogen, genau auf das wehrlos wartende Opfer zu, durch das Boot hindurch und auf der anderen Seite weiter. Doch das Opfer war nicht völlig wehrlos – jedenfalls nicht, solange der Brigadier sein Schnellfeuergewehr an der Backe hatte: denn der Jäger drehte scharf ab und entfernte sich eilig in der Richtung, aus der er gekommen war, nach Westen, nach Sumatra, während ausströmendes Öl schwarze Striche über seinen glatten Rumpf zog. Keine zwei Meilen von ihnen entfernt begegnete die Maschine dem zurückkehrenden Wasserflugzeug, und gemeinsam verschwanden beide in dem blaßgoldenen Nachglanz des Sonnenuntergangs. Das Boot hatte zwei Treffer abbekommen, zwei ernstliche Lecks, doch von den Insassen war erstaunlicherweise nur einer verwundet worden – ein Schrapnellsplitter hatte van Effen den Oberschenkel ziemlich übel aufgerissen.
Kaum eine Stunde später hatte der Wind aufgefrischt, bis zu Windstärke sechs oder sieben, und sie hatten noch kaum begriffen, was da herankam, als sie auch schon mittendrin im tropischen Unwetter waren. Es dauerte zehn Stunden lang, zehn nicht endenwollende Stunden des Windes, der Dunkelheit und eines seltsam kalten Regens, zehn endlose Stunden des Gierens und Stampfens, während die erschöpfte Bootsmannschaft die ganze Nacht hindurch um ihr Leben Wasser schöpfte, da achterlich auflaufende Seen über das Heck schlugen und über die Seiten hereinbrachen. Nicolson lief mit dem Boot vor dem Sturm her nach Süden, ohne Fock, und das Großsegel so weit gerefft, daß das Boot gerade noch genügend Fahrt machte, um auf das Ruder zu reagieren. Mit jeder Meile, die sie nach Süden trieben, kamen sie eine Meile näher an die Sunda-Straße heran. Doch selbst wenn Nicolson es gewollt hätte, so hätte er doch nichts anderes tun können, als sich vom Sturm treiben zu lassen: das Boot war achtern leck und lag mit dem Heck tief im Wasser. Hätten sie achtern einen Treibanker ausgebracht, so hätte er das Heck unter die Wasseroberfläche gezogen; und etwa zu wenden und einen Treibanker vorn anzubringen, war ganz und gar unmöglich. Denn um genügend Fahrt zum Wenden zu haben, hätten sie soviel Segel setzen müssen, daß entweder der Mast über Bord gegangen oder das Boot beim Wenden gekentert wäre. Wenn Nicolson nicht wenigstens soviel Segel gesetzt hätte, daß das Boot auf das Ruder reagierte, dann hätte es sich quer zur See gelegt, wäre vollgeschlagen und gesunken. Und dann war die lange, schwere Zerreißprobe dieser Nacht so unvermittelt zu Ende gewesen, wie sie begonnen hatte; doch was danach kam, das war dann erst die wahre Zerreißprobe.
Und jetzt versuchte Nicolson, auf die zwecklos gewordene Ruderpinne gelehnt, während McKinnon mit seiner Pistole unverändert wachsam neben ihm saß, den quälenden Schmerz des Durstes, der geschwollenen Zunge, der aufgeplatzten Lippen und der Brandblasen auf seinem Rücken zu vergessen und den Schaden zu überschlagen, der durch die entsetzlichen Tage entstanden war, nachdem der Sturm geendet hatte: endlose, qualvolle Stunden unter der erbarmungslosen Geißel der Sonne, einer Sonne, die von einer schrecklichen Gleichgültigkeit und zugleich von einer unvorstellbaren Bösartigkeit war, deren Wirkung immer unerträglicher wurde, bis sie die wehrlosen Opfer, Menschen, denen alles gleichgültig geworden war, an den Rand des physischen, moralischen und geistigen Zusammenbruchs
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