Die Überlebenden der Kerry Dancer
Drachmann saß, jetzt schon fast seit drei Tagen, den kleinen Peter festhielt, wenn er vor ihr im Heck herumsprang – dank der nicht rationierten Zuteilung an Nahrung und Trinkwasser, die er von Miss Plenderleith und McKinnon erhielt, war Peter der einzige, der über einen Überschuß an Energie verfügte – und ihn, wenn er schlief, stundenlang in ihren Armen hielt. Sie hatte dabei zweifellos heftige Schmerzen ausgestanden durch Muskelkrampf; beklagt hatte sie sich deshalb aber nie. Ihr Gesicht war in den letzten Tagen abgemagert, die Backenknochen traten stark hervor, und die große Narbe auf ihrer linken Wange sah von Stunde zu Stunde übler aus, da ihre Haut durch die brennende Sonne immer dunkler wurde. Sie lächelte ihm zu, nur ein kurzes Lächeln, das ihren vor Durst rissigen Lippen wehtat, dann sah sie beiseite und zeigte mit einem Kopfnicken auf Peter. Doch es war McKinnon, der die Geste bemerkte und richtig interpretierte; er gab das Lächeln zurück und tauchte die Schöpfkelle in den Rest des warmen, abgestandenen Wassers, das noch in dem Kanister war. Fast wie auf ein verabredetes Zeichen erhoben sich ein Dutzend Köpfe und verfolgten jede Bewegung der Schöpfkelle, sahen zu, wie McKinnon das Wasser vorsichtig aus der Kelle in eine Tasse goß, wie der Kleine mit seinen Patschhändchen eifrig nach der Tasse griff und in großen Schlucken trank. Dann verließen die spähenden Augen das Kind und die geleerte Tasse und richteten sich statt dessen auf McKinnon, blutunterlaufene Augen, verdunkelt von Qual und Haß; doch McKinnon lächelte sein bedächtiges, geduldiges Lächeln – und die Pistole in seiner Hand rückte und rührte sich nicht.
Die Nacht, die dann endlich kam, brachte nur wenig Erleichterung. Die Sonne brannte nicht mehr, doch die Luft war noch immer sehr heiß und drückend, und die kümmerliche Wasserration, die bei Sonnenuntergang ausgeteilt worden war, hatte nur das Verlangen nach mehr geweckt, den rasenden Durst nur noch unerträglicher gemacht. Nachdem die Sonne untergegangen war, rückten die Insassen des Rettungsbootes zwei oder drei Stunden lang unruhig auf ihren Plätzen hin und her, und einige von ihnen versuchten sogar, mit anderen ein Gespräch anzufangen. Die Gespräche dauerten jedoch nicht sehr lange; die Kehlen waren zu ausgedörrt, die aufgesprungenen Lippen zu wund, und bei allen mußte im Hintergrund des Bewußtseins immer der verzweifelte Gedanke lauern, daß für einige von ihnen, falls nicht ein Wunder geschah, der heutige Sonnenuntergang der letzte sein würde, den sie erlebten. Doch die Natur war gnädig, Körper und Geist waren erschöpft durch Hunger und Durst, die Energie verbraucht durch die Sonne, die den ganzen Tag lang gebrannt hatte, und nach und nach fielen fast alle in einen unruhigen Schlaf.
Auch Nicolson und McKinnon schliefen ein. Sie hatten es nicht gewollt. Ihre Absicht war gewesen, abwechselnd die Nacht hindurch Wache zu halten; aber sie waren nicht weniger erschöpft als die anderen, und so fielen ihnen von Zeit zu Zeit die Augen zu, und der Kopf sank ihnen auf die Brust, bis sie dann mit einem Ruck wieder wach wurden. Einmal schien es Nicolson, als höre er jemandem sich im Boot bewegen, und er rief leise. Es kam keine Antwort, und als er ein zweites Mal rief und wieder keine Antwort erhielt, langte er unter seinen Sitz und holte seine Taschenlampe heraus. Die Batterie war inzwischen fast verbraucht, doch der schwache gelbe Lichtstahl genügte, ihm zu zeigen, daß alles ruhig war, daß sich alle auf ihren Plätzen befanden. Kurze Zeit danach, als er eben wieder einnicken wollte, hätte er schwören mögen, ein leises Geräusch gehört zu haben, wie wenn irgend etwas ins Wasser gefallen sei. Wieder langte er nach seiner Taschenlampe. Doch wieder war nichts zu sehen, niemand bewegte sich im Boot. Er zählte all die schattenhaften Gestalten, und die Zahl stimmte: es waren neunzehn, außer ihm selbst.
Er hielt sich für den Rest der Nacht wach, obwohl er heftig gegen eine geradezu überwältigende Müdigkeit ankämpfen mußte. Seine Augenlider waren schwer wie Blei, in seinem Schädel war eine dumpfe Verwirrung, die Kehle war ausgedörrt, und die angeschwollene Zunge schien seinen Mund gänzlich auszufüllen. All das wollte ihn zwingen nachzugeben, seine zitternden Lider über die Augen fallen zu lassen, um ein paar Stunden zu schlafen und zu vergessen. Doch irgend etwas in seinem Bewußtsein sagte ihm immer wieder, daß er nicht nachgeben dürfe,
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