Die Ueberlebenden von Mogadischu
verzichtete, ließ er sich doch auch von mir das hintere Ende meines Kugelschreibers zeigen, aber es war ganz neutral, und er nickte mir befriedigt zu.
Aber in den Tagen zuvor hatte es in Dubai noch einen recht makabren Augenkontakt mit mir gegeben. Mahmud hatte dem Tower über Funk gedroht, er werde ab neun Uhr – falls die Maschine bis dahin nicht aufgetankt sei – alle fünf Minuten eine Geisel erschießen. Das hatte er dann auch über Bordlautsprecher den Geiseln verkündet. Da er aber sehr heiser war und wohl selbst erkannte, daß sein Gekrächze im Lautsprecher noch schlechter zu verstehen war, kam er aus dem Cockpit, um diese Entscheidung persönlich zu verkünden. Er stand im Mittelgang neben der ersten Sitzreihe und blickte mich während dieser Bekanntgabe unverwandt an, als spräche er zu mir allein. Dann schwieg er eine Weile, und wir blickten uns noch immer gegenseitig an. Plötzlich wandte er sich um 90 Grad nach rechts und teilte durch Fingerzeig sieben Nummern an Geiseln aus, die dort saßen: 001 , 01 , 1 (das 41 war Gabriele Dillmann, die eben aus einem kurzen Schlaf erwachte), 2 , 3 , 4 , und 5. Dann zählte er Minuten-Countdown. Aber das Tankfahrzeug kam in letzter Minute.
Nach der Befreiung, die für die Geiseln ebenso völlig unerwartet kam wie für die Geiselnehmer, hat sich meine Schutzwand keineswegs ebenso schlagartig aufgelöst wie die Aktion vonstatten ging. Ich habe etwa sieben Stunden gebraucht, um ganz langsam zu begreifen, daß nun noch einmal das Leben beginnt. Erst auf dem Heimflug über Somalia, Ägypten und das Mittelmeer kam ich wieder ganz zu mir zurück, wurde ich mit meinem Ich – mit dem ich mich hinter die Schutzwand gestellt hatte – allmählich wieder identisch.
Als die Dicke im Flughafengebäude in Mogadischu – mitten zwischen den geretteten Geiseln – etwa zwei Meter von mir entfernt – auf der am Boden abgestellten Trage blutbeschmiert vor mir lag, war sie keinem Blickkontakt zugänglich. Sie schrie ihre Siegesparole und hielt ihre rechte Hand mit dem V-Zeichen hoch, am linken Arm war ein Infusionsgerät angeschlossen. Wenn ihr die Sinne langsam schwanden und ihre V-Hand heruntersank, dann wurde ihr eine gelbe Sauerstoffmaske aufgedrückt. Aber sobald sie wieder zu Bewußtsein kam, hob sie sofort wieder die Siegeshand und rief irgend etwas in mir unverständlicher Sprache.
Ich ging dann hinaus, weil es draußen gegen Morgen angenehm kühler wurde. Sie war inzwischen verbunden worden und wurde zum Krankenwagen getragen, an dem ich zufällig gerade stand. Sie sah mich nur flüchtig an, ohne ihr fanatisches Parolengeschrei zu unterbrechen; die Trage wurde in den Wagen geschoben, und so war ich wohl die letzte der Geiseln, die sie am Ende ihrer mißglückten Aktion gesehen hat.
Eine Woche nach meiner Heimkehr bin ich von einem Psychologen und Psychiater gefragt worden, ob ich die Überlebende, als sie vor mir auf der Bahre lag, hätte erschießen können. Ich konnte zunächst nichts antworten, denn mit einem solchen Gedanken 42 hatte ich mich noch nie befaßt. Ich mußte erst versuchen, mir das überhaupt vorzustellen.
Ich sollte eine Frau, die wehrlos und verwundet vor mir am Boden lag, erschießen können? Zwar hatte sie – auch mir persönlich gegenüber – große Schuld auf sich geladen, und sie hatte die ganze Gewaltaktion und die Ermordung von Jürgen Schumann mit ihrem Tat-Anteil mit ermöglicht. Aber daß ich sie deshalb hätte einfach abknallen können, war mir unvorstellbar. Außerdem würde ich mich damit auf eine Stufe mit dem Mörder Jürgen Schumanns stellen, der schon ausgeführt hatte, wozu die anderen drei bereit waren: wehrlose Menschen kaltblütig zu ermorden.
Ich bin weder Richter noch Scharfrichter.
Der Text wurde später in ein deutschsprachiges Schulbuch in Norwegen übernommen. Karl Hanke ist am 26. August 1994 gestorben. 42
43 Kurze Geschichte einer langen Woche
Am 13. Oktober 1977 stiegen Fluggäste und Crew auf Palma de Mallorca in eine Linienmaschine der Deutschen Lufthansa, am 18. Oktober 1977 trafen sie am Zielort Frankfurt am Main ein. Es war die längste Woche ihres Lebens. Diese Woche hat eine Vorgeschichte, die zum Verständnis der Ereignisse wichtig ist, und die deshalb kurz erzählt gehört.
1977 befand sich die Bundesrepublik Deutschland in ihrem 29. Jahr. Von außen drohte ihr keine Gefahr, obwohl oder gerade weil ihre geographische Lage den neuralgischen Punkt des Kalten Krieges markierte,
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