Die Ueberlebenden von Mogadischu
gängigen Mentalität ist nötig [. . . ]. Alle müssen mehr darüber nachdenken, was sie für die Allgemeinheit tun können, als darüber, was die Allgemeinheit für sie tun kann.«
Mit der Beerdigung von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe am Donnerstag, dem 27. Oktober, in Stuttgart finden die überwiegend tragischen Ereignisse des Deutschen Herbstes einen vorläufigen Abschluss. Seine Aufarbeitung wird noch lange nicht zu Ende sein.
Im Zusammenhang mit der »Landshut«-Entführung gibt es weitere, kleinere Ehrungen, diesmal allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit – nicht einmal Journalistinnen und Journalisten sind dazu eingeladen. Bundesverkehrsminister Kurt Gscheidle verleiht Lufthansa-Vorstandsmitglied Werner Utter, Lufthansa-Chefpilot Martin Gaebel und Lufthansa-Flottenchef B 737 Peter Heldt am 8. November 1977 das Bundesverdienstkreuz. Werner Utter erhält für seine Leitung des Krisenstabes das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, Martin Gaebel und Peter Heldt, die auf dem Flughafen von Dubai waren und ein mobiles Stromaggregat an die »Landshut« gefahren haben, werden mit dem (um eine Stufe niedrigeren) Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt, derselben »Verdiensthöhe«, die auch Flugkapitän Jürgen Schumann postum erhalten hat. 100
101 Du hast sie nicht alle, du bist doch gesund
Als die befreiten Geiseln nach Hause kommen, erwartet sie eine Überraschung. »Ich traute meinen Augen nicht«, schreibt Diana Müll über die ersten Stunden in ihrer Heimatstadt Gießen, »der ganze Ort war auf den Beinen. Die Menschen säumten die Straßen und winkten mir zu, klatschten und freuten sich, ich bekam Gänsehaut. Zu Hause war die ganze Küche voller Geschenke, Waschkörbe voll mit Päckchen und Briefen bedeckten den Boden.«
Beate Zerbst findet zu Hause die Postkarte vor, die sie ihren Eltern aus dem Mallorca-Urlaub geschickt hat. »Meine lieben Eltern«, hatte sie auf die Rückseite einer Strandansicht von El Arenal geschrieben, »ich bin sehr gut angekommen. Die Mädchen sind alle sehr nett. Das Hotel ist gut. Es regnet fast den ganzen Tag. Ich weiß leider nicht viel zu schreiben. Ralf holt mich am Donnerstag ab. Bis bald, Eure Beate.«
Die befreiten Geiseln sind endlich zu Hause, und sie sind es doch nicht. Aus den meisten Berichten der Betroffenen geht hervor, dass sie in den ersten Tagen, Wochen und Monaten wie in Trance leben. Das Leben läuft an ihnen vorbei wie ein Film. Ein Film, der fünf Tage ihres Lebens vorüberziehen lässt und dann sofort wieder beginnt.
»Die Tage und Wochen nach der Entführung ging ich herum wie in einem Traum«, schreibt Hannelore Piegler in ihrem Buch über die »Landshut«-Entführung. »Ich suchte krampfhaft nach Veränderungen in der Welt, die so beruhigend und zugleich so furchtbar gleich geblieben war. Aber ich suchte am falschen Ort. In mir hatte sich etwas verändert, und damit stimmte mein Verhältnis zu der alten Welt, wie ich sie gekannt und hingenommen hatte, nicht mehr. Alles, was sicher geschienen hatte, war wankend geworden, und ich fühlte mich im Krieg. Es konnte kein Zurück mehr für mich geben. Gott weiß, wie sehr ich mich danach sehne! Aber ich kann nicht vergessen.« Hannelore Piegler weiß, sie kann ihr Leben nicht mehr an dem Punkt weiterführen, an dem es am 13. Oktober mittags unterbrochen wurde.
102 Jetzt reagiert der Körper auf die Strapazen dieser Tage. Die Opfer schlafen schlecht, reagieren gereizt, bekommen Angstzustände. Immer wieder kehren die grausigen Bilder zurück.
Bohrende Kopfschmerzen treten auf, Schwindelanfälle, Taubheitsgefühle in den Gliedmaßen, Appetitlosigkeit, Heißhunger, Albträume, Schlaflosigkeit, labile Gemütsverfassungen mit erhöhter Reizbarkeit und häufigen Stimmungswechseln.
Die früheren Geiseln meinen bei vielen Gelegenheiten ihre Entführer wiederzusehen, in Taxifahrern oder in Fluggästen oder in Freunden, die Mahmud und den anderen ähneln. Viele haben plötzlich Angst vor der Dunkelheit oder vor dem Aufenthalt in öffentlichen Räumen. Überall lauern Terroristen. Und hatte Mahmud nicht angekündigt, die Frauen und Männer bis zum Ende ihres Lebens verfolgen zu lassen?
Die befreiten Geiseln leiden unter einer Erkrankung, die heute »posttraumatische Belastungsstörung« genannt wird. Die Krankheit ist im Jahr 1977 noch nicht unter diesem Namen bekannt, erst Anfang der
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