Die Ueberlebenden von Mogadischu
achtziger Jahre geht sie in die psychiatrische Lehre ein, zuerst in den USA , später in Europa.
Jutta Brod macht in diesen Tagen eine Erfahrung, die viele Betroffene machen: mangelnde Einfühlung von Ärzten aus Unwissenheit heraus. »Ich war am Tag nach meiner Rückkehr zu Hause beim Hausarzt. Die haben uns schon auf dem Rückflug von Mogadischu gesagt, dass wir gleich nach unserer Rückkehr zum Hausarzt gehen sollten. Ich bin dann zusammen mit meiner Mutter zum Arzt gegangen, weil ich diese Gesichtslähmung hatte. Mir ist dann aufgefallen, dass der Arzt an meiner Geschichte viel mehr interessiert war als an der Frage, ob ich krank oder gesund war. Er hat mich über die Entführung ausgefragt. Ich war geschockt. Er hat mich für eine Woche krankgeschrieben.«
1977 existiert bei Hausärzten noch kein Wissen über die Krisenintervention, die bei akut traumatisierten Menschen wie den befreiten »Landshut«-Geiseln nötig ist. Wie sollen Hausärzte sie haben, wenn es nicht einmal genügend versierte Nervenärzte, Psy 104 chologen und Psychotherapeuten auf diesem Feld gibt? Und wie sollten die Betroffenen gerade von diesen wenigen Versierten erfahren? Kein Wunder, dass die Ärzte auf das Umfeld der Geiseln nicht bewusstseinsbildend einwirken können. Aus ihrem Bekanntenkreis hört Diana Müll den Satz: »Du hast sie nicht alle, du bist doch gesund.«
Abb. 6 : Beate Keller (ehem. Zerbst) schrieb diese Postkarte aus dem Urlaub, auf den die Entführung folgen sollte, an ihre Eltern. Nach dem Tod der Eltern nahm sie die Karte wieder an sich. 103
Zudem müssen die Geiseln mit einer Erfahrung fertig werden, die ihr Schamgefühl bei weitem überfordert hat. Für 82 Geiseln, fünf (nach der Ermordung von Jürgen Schumann vier) Crew-Mitglieder und vier Terroristinnen und Terroristen standen gerade einmal zwei Toiletten zur Verfügung. Die hygienischen Verhältnisse an Bord wurden von Tag zu Tag katastrophaler, besonders in den beiden Toilettenräumen der Maschine. Karl Hanke gibt im Gespräch mit dem Filmemacher Ebbo Demant im Jahr 1980 Details preis: »Um die Toilette zu benutzen – ich habe sie nur einmal, zum Schluss, benutzt – musste man mit beiden gestreckten Beinen stehen, um zwischen den Beinen nicht den Hügel der schon vorhandenen Fäkalien zu berühren. Abgesehen davon lagen furchtbar viele Binden aufeinander – man musste ja annehmen, dass die Frauen, die in der Maschine waren, außerhalb der normalen Regelzeit ihre Regel gekriegt hatten, denn es war ein ganzer Karton von Binden, der früher die sauberen Binden enthalten hatte, vollgestopft mit benutzten Binden. Und benutzte Binden lagen natürlich auch mit in diesem Hügel, bei dem man immer noch sagen konnte, da kommt noch etwas darauf.«
Zum scharfen Geruch von Fäkalien, Urin und Blut kam der Gestank eines Löschmittels, das zur Desinfektion auf den wachsenden Berg geschüttet wurde.
Zusätzlich wurde das Schamgefühl durch den Umstand verletzt, dass die Geiseln nicht ihren Wünschen entsprechend auf die Toilette gehen durften, sondern die Erlaubnis der Terroristinnen und Terroristen abwarten mussten. »Oft habe ich bis zu drei Stunden warten müssen, bis ich zur Toilette gehen durfte«, berichtet eine Geisel. Jutta Brod erzählt der Journalistin Rosvita Krausz 1980 105 die Geschichte eines Mädchens, »das neben mir saß, die ›Schmerzen bis zum Hals‹ hatte, weil sie zur Toilette gehen musste, aber nicht durfte. ›Da habe ich zum Schluss gesagt, ist doch egal, ist doch wirklich egal, ist doch so unwichtig, lass doch einfach laufen‹, und das hat sie dann auch gemacht. [. . . ] In dieser Nacht hat sie Krämpfe gekriegt, wurde auf einmal ganz steif am ganzen Körper. Ich nehme an, dass die Ursache war, dass sie nicht zur Toilette durfte.«
Nur einer Geisel blieben diese Zustände erspart, einem Jungen, der während der Entführungstage drei Jahre alt wird. Chefstewardess Hannelore Piegler hatte eine Kaffeekanne »zweckentfremdet«, wie sie in ihren Erinnerungen schreibt, damit der Vater mit seinem Sohn nicht so oft die stinkende Toilette aufsuchen musste.
Zu körperlichen Beschwerden kommt zuletzt das Gefühl, sich vor sich selbst nachträglich für das eigene Verhalten rechtfertigen zu müssen: Ich habe mich in einer Grenzsituation in einer Weise verhalten, wie ich es selbst nie von mir vermutet hätte. Ich schäme mich jetzt dafür, vor mir selbst und vor anderen.
Beispiele aus der »Landshut« gibt es zuhauf.
»Zuerst versuchte
Weitere Kostenlose Bücher