Die Ueberlebenden von Mogadischu
frei. Die Frauen und Männer treffen am Nachmittag dieses Tages in Frankfurt ein, wenig später landen ihre Befreier, Männer der Grenzschutzgruppe 9 , auf dem Flughafen Köln-Wahn. Am selben Abend richtet Bundespräsident Walter Scheel über das Fernsehen einen Appell an die Entführer von Hanns Martin Schleyer, ihre Geisel freizulassen. Dies ist mit dem Selbstmord der RAF -Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und dem versuchten Selbstmord von Irmgard Möller noch unwahrscheinlicher geworden. Die Führungsgruppe der Roten Armee Fraktion hatte sich in den frühen Morgenstunden des Dienstags selbst nahezu vollständig ausgelöscht, nachdem sie über eingeschmuggelte Radios von dem – aus ihrer Sicht negativen – Ausgang der Entführung erfahren hatte. Der Selbstmord von Gudrun Ensslin und den anderen ist ein Schock, weil er eklatante 96 Sicherheitsmängel im Gefängnis Stuttgart-Stammheim offenbart und, solange die genauen Umstände nicht geklärt sind, Gerüchte in jeder Richtung nährt.
»Die Erinnerung an diesen 18. Oktober 1977 ist auf schreckliche Weise zwiespältig«, wird Bundespräsident Johannes Rau genau 25 Jahre später in einer Gedenkfeier für die Opfer des RAF -Terrorismus in Berlin sagen. »Einerseits war es ein Tag der Befreiung und der Erleichterung. [. . . ] Zugleich war der 18. Oktober aber ein Tag des Todes.«
Der Tod kommt auch am Folgetag. Am Nachmittag des Mittwochs, des 19. Oktober 1977 , wird Hanns Martin Schleyer in Mülhausen tot aufgefunden. Seine Entführer haben ihn ermordet und in den Kofferraum eines Autos gelegt.
Am Morgen des 20. Oktober 1977 gibt der Bundeskanzler eine Regierungserklärung zu den Ereignissen der vergangenen Tage ab. Außer ihm sprechen der Bundestagspräsident und die Vorsitzenden der drei Bundestagsfraktionen. Helmut Schmidt erklärt, die, wie er sie nennt, »befreiende Tat von Somalia« entspringe den bewusst erlebten Grundwerten der Freiheit und der Solidarität. Es sei hier »ein Beispiel für die Bedeutung unserer Grundwerte« gegeben worden. Es sei Orientierung gegeben worden.
Helmut Schmidt nimmt dieses Beispiel zum Anlass, allen Deutschen ein aktives Eintreten für den Staat abzuverlangen: »Es ist falsch, nur danach zu trachten, was ein Einzelner oder eine Gruppe von der Gemeinschaft, von der Gesellschaft oder vom Staat empfangen oder sich verschaffen könnte. Es ist vielmehr notwendig, dass wir alle uns selbst fragen, was wir der Gemeinschaft zu geben haben und wie wir ihr dienen können.« Später in der Erklärung grüßt Helmut Schmidt »die Menschen, die in der entführten Maschine hundertzwanzig Stunden der Gewalt der Terroristen, hundertzwanzig Stunden schwerster physischer und psychischer Belastung in bewundernswerter Weise ertragen haben«. Mit Blick auf die Opfer dieses Deutschen Herbstes, darunter Jürgen Schumann und Hanns Martin Schleyer, skizziert er das Dilemma der 97 eigenen Entscheidungssituation, von dem noch die Rede sein wird. »Wer weiß«, sagt Helmut Schmidt, »dass er so oder so, trotz allen Bemühens, mit Versäumnis und Schuld belastet sein wird, wie immer er handelt, der wird von sich selbst nicht sagen wollen, er habe alles getan und alles sei richtig gewesen. Er wird nicht versuchen, Schuld und Versäumnis den anderen zuzuschieben; denn er weiß: Die anderen stehen vor der gleichen unausweichlichen Verstrickung. Wohl aber wird er sagen dürfen: Dieses und dieses haben wir entschieden, jenes und jenes haben wir aus diesen oder jenen Gründen unterlassen. Alles dies haben wir zu verantworten.«
Am Nachmittag des 20. Oktober 1977 empfängt Bundeskanzler Helmut Schmidt die Männer der GSG 9 im Kanzleramt. Bundesinnenminister Werner Maihofer händigt insgesamt 62 Mal das Verdienstkreuz am Bande, das Verdienstkreuz 1. Klasse und das Große Verdienstkreuz aus – die Grenzschutzgruppe wird als Einheit geehrt, also auch Mitglieder, die am Mogadischu-Einsatz nicht beteiligt waren. Die Ordensstufe richtet sich nach dem jeweiligen Dienstrang des GSG - 9 -Mitglieds, da mit höherem Dienstrang auch ein höheres Maß an Verantwortung vorausgesetzt wird. Dem Kommandeur der GSG 9 , Ulrich Wegener, wird das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Eigentlich, so erinnert sich Wegener im Gespräch, habe er allein die Auszeichnung erhalten sollen, er sei damit jedoch nur unter der Bedingung einverstanden gewesen, dass die gesamte Einheit geehrt würde.
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