Die Übermacht - 9
bin mir sicher, dass ein jeder hier im Thronsaal weiß, was diese Gründe waren. Aber ich möchte unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass sich diese Feindschaft – meine ebenso wie die des Kaisers – gegen das Oberhaupt dieses Hauses richtete, und sie war die Folge allein seines Handelns. Diese Feindschaft war nicht die Folge eines tief verwurzelten Hasses auf Corisande oder auf alles, was mit diesem Fürstentum zu tun hatte und immer noch hat. Wir hatten konkrete Gründe, uns Prinz Hektor auf dem Schlachtfeld entgegenzustellen. Deshalb haben wir das getan, offen und direkt, ohne die diplomatischen Fantastereien, Lügen und Masken, hinter denen die Ritter der Tempel-Lande ihre Verbrechen zu verbergen suchten.«
Sie sah, wie mancher ihrer Zuhörer die Schultern anspannte, als die Kaiserin von Charis mit diesen Worten den sprichwörtlichen Drachen direkt bei den Hörnern packte.
»Mir ist bewusst, dass es immer noch viele gibt, die glauben, der Kaiser habe das Attentat auf Hektor Daykyn angeordnet. Ich verstehe, wie dieser Glaube derart viel Verbreitung hat finden können. Aber mein Gemahl ist nicht dumm, meine Lords und Ladys! Glaubt auch nur ein Einziger unter ihnen, der Sohn Haarahlds von Charis hätte nicht begriffen, wie die Ermordung Prinz Hektors unmittelbar vor dessen Kapitulation die Herzen und den Verstand aller Corisandianer vergiften und sie gegen ihn einnehmen würde? Können Sie sich etwas vorstellen, was besser geeignet wäre, um die friedliche, ruhige Eingliederung von Corisande in das Kaiserreich von Charis zu erschweren? Nachdem mein Gemahl Tausende von Meilen weit gesegelt war und auf dem Schlachtfeld einen überwältigenden Sieg nach dem anderen errungen hat, was hätte dann jemanden außer einem blutrünstigen Ungeheuer dazu bewegen können, nicht nur Prinz Hektor ermorden zu lassen, sondern auch noch dessen ältesten Sohn?«
Wieder legte Sharleyan eine kurze Pause ein. Sie währte nur einen einzigen Herzschlag lang. Dann ...
»Sie, meine Lords und Ladys, hatten Gelegenheit mitzuerleben, welche Politik General Chermyn hier in unserem Namen betrieben hat. Sie wissen, dass der Grund für diese Politik unser Bestreben ist, deutlich zu zeigen, dass das Kaiserreich Charis das Gesetz respektiert und nicht die Absicht hat, eine Schreckensherrschaft zu errichten und mit der eisernen Faust der Unterdrückung zu regieren. Viele von Ihnen hatten die Gelegenheit, Kaiser Cayleb persönlich kennen zu lernen. All jenen, die diese Gelegenheit genutzt haben, muss bewusst geworden sein, dass der Kaiser, so entschlossen und gefährlich er auf dem Schlachtfeld auch sein mag, es wahrlich nicht genießt, das Blut von Menschen zu vergießen. Ein solcher Mensch ist Cayleb nicht, und er war es auch nie. Ich bitte Sie, sich selbst zu fragen, ob die Krone, die eine derartige Politik diktiert hat, ob der Kaiser, den Sie persönlich kennen gelernt haben, sich wirklich dazu herablassen würde, einen Feind heimtückisch ermorden zu lassen, obschon er bereits besiegt war und die Bereitschaft gezeigt hat, ehrenvoll zu kapitulieren. Eine solche ehrenvolle Kapitulation wäre politisch gesehen für das Kaiserreich ungleich wertvoller gewesen, sowohl hier in Corisande als auch in den anderen Reichen – wertvoller, als die Ermordung Prinz Hektors es jemals hätte sein können. Denn auf diese Weise wurde Prinz Hektor zum Märtyrer.«
Leises Gemurmel durchzog den Thronsaal, als streife eine Brise über ein Gräserfeld, als der eine oder andere Adelige und Prälat begriff, was die Kaiserin von Charis gerade andeutete. Doch niemand wagte es, ihr offen zu widersprechen. Ganze zehn Sekunden lang saß Sharleyan nur schweigend da und ließ das Gesagte auf ihre Zuhörer wirken.
»Mir ist voll und ganz bewusst, dass die ›Vierer-Gruppe‹ mich wie den Kaiser exkommuniziert und das gesamte Kaiserreich Charis mit dem Interdikt belegt hat«, fuhr sie dann fort. »Daher sind jegliche Eide, die Sie uns oder der Kirche von Charis schwören, in den Augen der Tempelgetreuen nicht bindend. Selbstverständlich sehen wir das anders. Es bleibt uns keine andere Wahl, als darauf zu bestehen, dass all jene, die uns einen Eid leisten, diesen Eid auch in Ehren halten. Kein Regent kann weniger als das akzeptieren, nicht einmal in Friedenszeiten. Kein Regent, nicht einmal in Kriegszeiten, hat das Recht, mehr als das zu verlangen.
Auch das ist einer der Gründe, warum ich jetzt in Corisande bin. Sie alle wissen, worauf ich mich beziehe. Ich
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