Die Übermacht - 9
interessante Wortwahl , dachte Sharleyan und verkniff sich ein ironisches Grinsen, während sie ebenso wie alle anderen ihre Fingerspitzen zuerst an ihr Herz und dann an die Lippen führte. Die richtigen Worte zu finden war hier in Corisande ein komplizierterer Drahtseilakt als in allen anderen Teilen des jungen Kaiserreichs Charis. Gairlyng hatte das eindeutig verstanden. Er hatte es vermieden, Sharleyan als die Regentin von Corisande zu bezeichnen, und ihr war auch nicht entgangen, dass er sie als ›königliche Besucherin‹ bezeichnet hatte, nicht als ›kaiserliche‹. Gleichzeitig hatte er sie aber auch nicht als Eindringling dargestellt, und niemand konnte es dem Erzbischof verübeln, dass er um Gottes Segen für den jungen Daivyn gebeten hatte. Und ›schlichte den Streit zwischen Deinen Kindern‹ stammte wörtlich aus der ältesten Liturgie der Kirche des Verheißenen. Natürlich hatten diejenigen, die seinerzeit jene Liturgie verfasst hatten, wohl kaum eine solche Situation im Sinn gehabt.
Kleider raschelten, Füße scharrten, man räusperte sich, so wie es eigentlich immer unmittelbar nach einem Gebet der Fall war. Dann wandte sich Anvil Rock an Sharleyan, verneigte sich. Auf diese Weise, ohne großes zeremonielles Aufheben, bot er ihr die Gelegenheit, das Wort zu ergreifen.
»Ich danke Ihnen für Ihre heutige Begrüßung«, sagte sie und bemerkte, dass der eine oder andere sie erstaunt ansah, weil sie auf das kaiserliche ›Wir‹ verzichtet hatte. Na ja, dafür wäre ja später immer noch Zeit.
»Ein charisianischer Monarch – und zu einem solchen bin ich geworden, so sehr mich diese Vorstellung noch vor drei Jahren selbst erstaunt hätte«, sie lächelte, und einige der Höflinge lachten leise, »weiß einen Hafen stets zu schätzen, in dem man willkommen geheißen wird. Dies gilt in besonderem Maße nach einer Winterreise, die deutlich länger gedauert hat, als ich mir gewünscht hätte. Mehr noch, mir ist bewusst, wie viele schwierige Streitfragen immer noch zwischen dem Fürstentum Corisande und der Krone von Charis bestehen, und so sehe ich es als günstiges Omen an, dass mir bei meiner Ankunft so viele das Beste wünschen.
Gleichzeitig«, ihr Mienenspiel und ihre Tonfall wurden ernster, »ist es offenkundig, dass nicht jeder hier in Manchyr erfreut ist, mich zu sehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Unter den gegebenen Umständen kann ich jenen kaum einen Vorwurf machen, die immer noch Vorbehalte hegen, was die Zukunft betrifft. Und es ist nur natürlich, dass sich derartige Vorbehalte auch als Vorbehalt meiner Person und Kaiser Cayleb gegenüber zeigen. Einer der Gründe für den Besuch, den mein Gemahl dem Fürstentum im letzten Jahr abgestattet hat, war auch, einige dieser Vorbehalte auszuräumen. Auch für meinen Besuch gilt das. Natürlich«, ihre Miene wurde grimmig, »gibt es auch noch andere, weniger erfreuliche Gründe.«
Nun herrschte im Thronsaal wieder völlige Stille. Sharleyan blickte sich um, schaute die versammelten Höflinge der Reihe nach an und gestattete ihnen, die Kaiserin von Charis zu mustern, die ruhig und gelassen auf sie hinunterschaute.
»Es ist niemals erfreulich, sich einer bewaffneten Streitmacht unterwerfen zu müssen«, sagte sie mit klarer Stimme. »Der Kaiser und ich wissen das. Gleichzeitig jedoch dürfte jeder aufrechte Mensch uns zugestehen, dass wir kaum eine andere Wahl hatten. Fünf Fürstentümer und Königreiche wurden von den Rittern der Tempel-Lande aufgefordert, sich gegen das Alte Königreich Charis zu verbünden. Ich darf Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass auch mein eigenes Königreich zu diesen fünf Reichen zählte. Die fünf wurden dazu aufgefordert, obwohl das Königreich Charis keinerlei Verbrechen gegen jene fünf Reiche begangen oder sie in sonst irgendeiner Weise angegriffen hatte. Charis blieb keine andere Wahl, als sich zu verteidigen. Und als offenkundig wurde, dass die korrupten Vikare, die in Mutter Kirche die Macht an sich gerissen haben, die Absicht hatten, nicht nur das Königreich Charis zu vernichten, sondern selbst noch den letzten Funken Gedankenfreiheit, hatte das Kaiserreich Charis keine andere Wahl, als den Krieg zu seinen Feinden zu tragen. Und so wurde der Krieg zu Ihnen getragen unter den Bannern meines Kaiserreichs.«
Die Stille wurde angespannter. Sharleyan nahm es ruhig hin, die Schultern nach wie vor gestrafft.
»Ich werde nicht vorgeben, Chisholm habe keine Gründe für eine Feindschaft mit dem Hause Daykyn. Ich
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