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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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verschenkt er erneut einen menschenfreundlichen Blick und sagt: »Hat alles Zeit, Fokko.«
    »Ja, Hinrich. Bin sterbensmüde…«
    Sie wünschen sich eine gute Nacht, und während der Freund still weitermalt, geht Fokko nach oben, legt sich ins Bett, löscht das Licht, schließt die Augen und fühlt sich behütet wie als Kind, wenn er die Stimmen der Eltern unten in der Küche hörte, das Klappern der Stricknadeln, das kurze, metallische Geräusch, wenn Vater die Zange auf den Tisch legte, mit der er die Reusen reparierte.
    Wie wenig lange ist das alte Leben her und wie weit weg das neue!
    Mit diesem Gedanken fällt er in einen Totenschlaf.
     
    Das erste, was er wahrnimmt, ist ein unscheinbares Geräusch, ein Knistern und Knarzen, wahrscheinlich nichts anderes als das übliche Stöhnen des Dachstuhls unter den Attacken des ruhelosen Windes. Das erste Licht fällt zwischen seinen Fingern durch, mit denen er im Schlaf das Gesicht bedeckt hat. Der erste Gedanke ist der an das ächzende Gebälk des  Hauses, aber ihm folgt auf der Stelle ein anderer nach, eine Erinnerung im Gefolge eines Geruchs nach Mäusedreck und Staub, nach den Ausdünstungen alter Lederkoffer und in Zeitungspapier eingeschlagenen Wintermänteln. Unter dem Dach hat er gelegen, all die unmeßbare Zeit seiner Kindheit und Jugend, jeden Morgen wie in einem hölzernen Zelt erwacht, in dem Bewußtsein des Vorläufigen, des Improvisierten, und genau so geht es ihm auch jetzt. Zwischen Foxens gesammelten Werken auf einem alten Bett zu schlafen, ist nichts als ein notdürftiges Quartier auf der Durchreise, eine Etappe auf einem Weg, von dem er nicht weiß, ob er ihn kommt oder geht.
    Vor ein paar Atemzügen war er noch in einem wilden Traum verfangen, in dem offenbar der Dachstuhl Evas Rolle synchronisiert hat, jetzt sitzen die häßlichen Zwillingsschwestern Kälte und Einsamkeit mit ihm auf der Bettkante, aber ehe sich ihre unersättlichen Krallen in seiner Haut festfressen können, ist er schon aufgesprungen, hat sich seine Kleider und den Rucksack gegriffen, wirft im Gehen einen Blick aus dem Fenster auf die schnurgerade Linie des Deiches, den hohen, lichtgrauen Himmel darüber und auf den Giebel der Werft, auf dem ein Sonnenfleck die Bedeutung des linken Punktes im Buchstaben Ü des Namens Bültjer unangemessen überhöht. Der Tag wird schon etwas älter und das Wetter nicht so übel sein.
    Foxens Gemälde scheint fertig zu sein. Noch in der Nacht hat der alte Hexenmeister dem Bild Leben eingehaucht, die Felsenküste wird von einer Hand voll sonderbarer Geschöpfe bewohnt, die jedes für sich vollkommen isoliert zu existieren scheinen, nur der Geistliche im flamingofarbenen Parament, ein hoch in den düsteren Gewitterhimmel ragender Mann mit einer übergroßen Taucherbrille um das Haupt, dem Fokko im Skizzenbuch begegnet ist, korrespondiert mittels seiner wippenden Lanze vom höchsten Felsen mit der schönen Krokodilsfrau am schmalen Strand, auf die er verweist wie Zerberus auf die Auserwählte unter den Verdammten. In einem Höhleneingang mittens der Felswand steht kleinwüchsig und glatzköpfig Monsieur Michel Montaigne mit Mongolenbart und vielfältig gerüschter Halskrause, schaut offenbar amüsiert in den Himmel über dem Meer, den der Betrachter nicht sieht, so wie der Philosoph das restliche Personal des merkwürdigen Konvents nicht wahrnehmen kann. Aber vielleicht sieht er die Lanzenspitze wippend von oben kommen wie einen göttlichen Hinweis auf die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, vielleicht führt er Beweise wie Platon in seinem Höhlengleichnis, die Bewegungen der Lanzenspitze sind ihm die Schatten, und wenn er sich von da oben in die wütend schäumenden Wellen des Meeres stürzte, erreichte er vielleicht für einen letzten Moment die dritte Stufe der Erkenntnis.
    Diese Felsenküste, denkt Fokko, ist ausschließlich von geistlichen Gestalten bevölkert, obschon er Hinrich seit je für einen unbekehrbaren Atheisten gehalten hat. Wie nochmal war der Titel des Bildes? Es war der eines Essays von Montaigne.
    Die Küchenuhr steht auf halb zehn, der Abreißkalender zeigt Dienstag, den 4. Januar. Er öffnet die Tür zum Garten. Es ist ein ruhiger Morgen, der Himmel ist zwar bedeckt, aber hoch und licht. Es wird so bald keinen Regen geben.
    Er hat ewig geschlafen und ist ewig unterwegs. Eigentlich schon immer, so kommt es ihm vor. War stets auf dem Weg, hat immer nur provisorisch innegehalten, als wäre der Sinn des Lebens, das Ende

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