Die Uhr der Skythen (German Edition)
Heute, um diese Zeit in der Frühe des selben Tages, war er auf dem Weg zum Bahnhof, jetzt aber kommt es ihm vor, als wäre er nur für einen wunderlichen Tag in der Stadt gewesen.
»Mal sehen«, sagt er und stellt die Tasse auf die Fensterbank zurück.
»Jau.« Fox fühlt über die Leinwand, sucht zwischen den Werkzeugen herum, entscheidet sich für einen breiten, flachen Pinsel, mit dem er im Blechdeckel einer alten Keksdose ein Farbgemisch anrührt.
»Ich hab da ein Mädchen kennengelernt.«
Seine Worte schlagen sich auf die Fensterscheibe nieder. Er verwischt die Spuren mit den Fingern, als könnte er den Satz ungesagt machen.
»Wo?«
»In Osnabrück, aber sie ist von hier.«
»Merreth.« Fox stellt es fest, als wäre sie eine alte Bekannte.
»Ja.«
»Wie hieß die weiter?«
»Winterboer.«
»Merreth Winterboer.« Aus einer Blechdose gibt Fox noch einen Spritzer Terpentin oder dergleichen in den Deckel, rührt mit dem Pinsel drin herum und verteilt das Gemisch mit kleinen, kreisenden Bewegungen in die Partie oberhalb der Felsenküste, in der auf diese Weise ein finsteres Himmelsgewölbe entsteht, in dem die verschiedenen Farben wie wilde Wolkenbewegungen versuchen, voneinander loszukommen. »Winterboers gibt es häufig. Liegt, glaub ich, auf dem Friedhof jemand aus dem Geschlecht. Frag mal in Jemgum einen von den Alten.«
Die Farben ziehen sich unter den Pinselstrichen zu zähen Schlieren oder werfen Blasen, ehe sie zu einem mineralienbunten, vulkanischen Meeresgrund erstarren.
»Hamelmann«, sagt Fox und legt den Pinsel aus der Hand. »Den kannste fragen.«
»Den gibt’s noch?«
»Allerdings.«
»Der müßte doch fünfzig Jahre tot sein.«
Wie die Erinnerung so funktioniert. Es ist nur ein Name, aber er löst zuverlässig Bilder aus. Hamelmann betritt in seinem grauen Anzug das erste Mal die Klasse und grinst auf eine derart vertrauenerweckende Weise, daß man glauben mußte, er habe sich mit den pubertierenden Kindsköpfen für einen historischen Schabernack verabredet. Hamelmann in einer reichsdeutschen Badehose schreitet bei der Klassenfahrt in kalkweißer Würde von der Insel Borkum in die sanftmütige Nordsee, schwimmt erhobenen Hauptes einen Bogen, kommt mitsamt Brille und korrekter Frisur aus dem fremden Element, trocknet sich ab, zieht sich an und sitzt fürderhin wie Thomas Mann vor dem Hotel Ter Duin in Noordwijk aan Zee in Socken und hemdsärmelig im Sand und liest in einem Roman, von dem Fokko nicht mehr erinnert als einen zerbrochenen Pinsel auf dem Umschlag. Dieser Mann war auf eine solch verdrehte Art die Karikatur eines Lehrers, daß niemals jemand von ihnen auf die Idee gekommen wäre, sich über ihn lustig zu machen.
»Nein«, lacht Fox, »der kam uns schon damals alt vor, weil wir jung waren. Ist vielleicht Mitte siebzig, an die achtzig. Den läßt der Gevatter noch eine schöne Weile auf der Welt und in seinen hunderttausend Büchern schmökern. Der ist wie ein Universallexikon, eine Suchmaschine, den kannste alles fragen, und wenn er dir nicht sofort Antwort gibt, dann sitzt er in der Nacht über seinen Folianten und weiß es am nächsten Tag.«
Er gibt den Pinsel kurz in den Blechdeckel, tupft an den oberen Ecken des Bildes herum, macht einen raschen Schritt zurück, dann nimmt er die Leinwand von der Staffelei, legt sie auf den Fußboden, steigt auf einen Stuhl und klopft mit der rechten Faust vorsichtig in die linke Hand, so daß ein feiner Farbregen aus dem Pinsel auf die Küstenlandschaft niedergeht.
»Hat wohl eine erhebliche Erbschaft gemacht«, sagt er, legt den Pinsel beiseite, wischt sich die Hände im Handtuch, nimmt einen Schluck Tee und schaut Fokko über den Rand der Tasse an. »Hat sich pünktlich pensionieren lassen und eine Villa in Jemgum gekauft, das schneeweiße Zuckerbäckerstück beim Sportplatz, mit Türmchen, Freitreppe und so, kennst du auch, die hat mal der Boss von der Ziegelei gebaut.«
»Direkt an der Hofstraße.«
»Genau. Hamelmann hat seitdem das Haus mit Büchern gemästet. Eines Tages wird die Villa unter dem Gewicht der Bibliothek zusammenkrachen und das Wissen der Welt wird den Universalgelehrten unter sich begraben.«
»Warste mal da?«
»Nee. Aber man kann bei ihm klingeln. Wer sich traut, kann ihn was fragen oder ein Buch ausleihen. Das Ordnungssystem seiner Bibliothek existiert allerdings nur in seinem Kopf. Du sagst ihm, was du gern hättest, dann flaniert er durch das riesiges Haus, memoriert treppauf, treppab den Titel, und
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