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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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Problem, Freunde zu gewinnen und von den Frauen begehrt zu werden.
    Auf der Ems spiegelt sich nichts. Der Lastkahn ist just eine Schiffslänge vorangekommen, und das Dorf Bingum scheint Zentimeter für Zentimeter in den Wiesen zu versinken. Von diesem trübsinnigen Fleck aus kann man überall hinkommen, auf dem Wasser, mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Nur nicht bleiben. Er könnte morgen in der Frühe nach Amsterdam aufbrechen, eine Kammer auf einem Hausboot mieten und sich um eine Anstellung beim Wachpersonal des Rijksmuseums bemühen: er würde die Tage unter den Meisterwerken des Goldenen Zeitalters verbringen, in den uralten Geschichten flanieren, die ihm mit der Zeit seine eigenen, überkommenen Legenden übermalen würden, in den Nächten säße er an einem kleinen Tisch und setzte unter dem Wiegen der sanften Dünung der Gracht und dem schwachen Schein einer Straßenlaterne mit einem Stift Wort für Wort seines neuen Lebens auf unbeschriebenes Papier.
    Die Uhr! Er sieht sie neben dem silbernen Bilderrahmen auf des Vaters Nachttisch liegen, Schwester Ulla wird sie längst fortgeworfen haben oder eingesteckt oder öffnet sie jeden Augenblick, und die Leben der Sterbenden werden ewig währen.
    Die Aufbauten des Binnenschiffs kommen unter der Brücke durchgeschoben, Fokko hält für diesen Moment der Passage noch inne, hört auf das schwere Stampfen der Maschine, beobachtet die ruhige Fahrt des Kahns wie eine Allegorie auf ein Leben, das er vergeblich sucht, könnte doch bei einem Partikulier anheuern, auf Flüssen und Kanälen unterwegs sein, ohne je die Frage stellen zu müssen nach dem Sinn dessen, was er tut. Vor allem könnte er die Uhr an der Seite des sterbenden Vaters ihrem Schicksal überlassen. Wenn er nicht auf sie geprägt wäre. Denn davor fürchtet er sich wirklich: verloren zu sein in der stillgestandenen Zeit wie es mit Schwammheimer am Bahnhof von Osnabrück gewesen ist.
    Auf der Fahrt zurück stemmt sich ihm ein höhnischer Wind entgegen, der Fahrstuhl im Altenheim verweigert die Arbeit, der Mann mit der Zeitung vor dem Zimmer des Vaters nickt ihm freundlich zu, als wüßte er, wie bald Fokko zu den Bewohnern zu rechnen sein wird. Eine einzige Bewegung wird es sein: die Tür geöffnet, ohne einen Blick zur Seite die zwei Schritte zum Nachttisch, die Uhr gegriffen und in der Parkatasche verschwunden, in einer Sekunde die Schritte zurück, die Tür geschlossen ohne einen letzten Blick, und wie ein schwacher Schatten wird er durch das Treppenhaus und die Eingangshalle ins Freie verschwunden sein, wo ihm der Wind die morbiden Gerüche austreibt.
    Vorsichtig öffnet Fokko die Tür. Sein Vater schaut ihn mit klaren Augen an, und die Uhr ist nicht da. Flüssiges Metall strömt durch seine Adern, sein Blick fliegt durch den Raum und endet auf den Skeletthänden des Alten: nichts. Er würde sich lieber heute als morgen von dem Zauber trennen, wenn aber Schwester Ulla das kostbare Stück fürsorglich in ihre Obhut genommen hat und es heute Abend in ihrer Mansardenwohnung irgendwo in Leer oder in einer Kammer auf einem der Höfe in einem der zweihundert Kaffs der Umgebung neugierig öffnet, dann bleibt die Zeit stehen bis ans Ende der Zeit.
    Sein Vater wird ungestorben auf seinem Sterbelager liegen bleiben, Fox mit der Fähre auf der Ems stecken, als wäre sie plötzlich geliert, er selbst wird auf ungewisse Zeit durch das Reich der Untoten irren und ihnen in ihren Albträumen erscheinen.
    Er öffnet die Schublade des Nachttisches. Dort liegt sie. Zwischen des Vaters Geldbörse, einer schwarzen Brille, die Fokko nicht kennt, der Armbanduhr, einer Flasche Klosterfrau Melissengeist und etlichen Packungen Papiertaschentücher. Er steckt die Uhr ein, wird sie unverzüglich verscharren, noch in der kommenden Nacht tief in einem Grab des Pogumer Friedhofs verbuddeln, wo sie frühestens am Jüngsten Tag wieder zum Vorschein kommt. Jetzt aber, so fährt es ihm durch den Kopf, könnte er sie ein letztes Mal öffnen, um im Schutz des Zeitstillstandes diese Gruft unbemerkt zu verlassen, ohne den garstigen Wind ein erhebliches Stück nach Norden zu radeln und an der Critzumer Kirche oder sonstwo den Lauf der Welt wieder in Gang zu setzen.
    »Fokko, bist du das?«
    Des Vaters Stimme klingt beinahe wie früher.
    »Was für ein Tag ist heute?«
    »Mittwoch«, sagt Fokko.
    »Du warst eine ganze Woche nicht hier, mein Sohn!«
    »Ja…«
    Die Fotografie auf dem Nachttisch zeigt seine Eltern vor ihrem Haus. Steif und mit einem

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