Die Uhr der Skythen (German Edition)
Fußgängerampel springt von Rot auf Grün, und aus einem Haus am Rand seines Blickfeldes steigt Rauch auf. Die Kälte ist mit bloßem Auge nicht zu sehen. Es ist wie ein Bild von Breughel. Alles macht Sinn. Die Normalität ist ein fruchtbarer Boden für das Glück. Er hat in diesem Bild gelebt. Es war frei von der Rastlosigkeit und Gier, der er in der Stadt begegnet ist, aber es war bei aller Schönheit eine Fälschung, gemalt mit den Farben der Angst. Nichts war so, wie es schien, nichts wirklich echt, selbst das Licht und die Farben der Sommerbilder waren aus kaltem Schlick modelliert, denn es fehlte ihnen die Wärme der Liebe.
Es ist nicht der Ekel, der ihm zu schaffen macht, es ist die Verachtung.
Die Tür fliegt auf, Schwester Ullas Stimme beschwert sich mit einem grellen Unterton von Frauenknast über das unberührte Tablett und die verstreuten Zähne, auf der Stelle müsse außerdem das Fenster geschlossen werden, sonst hole sich der Patient unabwendbar den Tod.
Unabwendbar sagt sie, denkt Fokko, und Patient. Er schließt das Fenster. Wer wird hier wen holen?
»So«, kreischt sie verärgert, »kommt er nie wieder auf die Beine!«
Mit einem versierten Kunstgriff hat sie die Prothese an ihren Platz komplementiert und dem alten Mann das wunderlich hölzerne Gesicht einer Marionette zurückgegeben.
»Wenigstens die Pillen«, sagt sie ein klein wenig sanfter, läßt sie zwischen die Plastikzähne in den wehrlosen Rachen kullern, drückt die Schnabeltasse hinterher und vollführt eine routinierte Ruckbewegung. Die Augen der Sterbepuppe klappen kurz einmal auf, und als sie wieder geschlossen sind, liegt Fokkos Vater da, wie er ihn vorgefunden hat.
»Er braucht das nicht mehr.«
»Wieso?«
»Ist geheilt.«
Aus dem Mondgesicht mit dem flammenroten Haarkranz ist jede Fröhlichkeit verweht, es fixieren ihn zwei kugelrunde Augen, in denen offene Feindschaft versprochen wird, aber wenigstens hat ihr die Entrüstung die piepsige Sprache verschlagen.
»Der kommt nicht mehr auf die Beine«, sagt er, nimmt das Tablett und drückt es ihr in die Hand. »Der stirbt. Und er will das so.«
Nichts hat es ihr verschlagen, sie sammelt nur mit großen Augen Luft und Wut und Raum für die empörte Gegenrede, setzt das Tablett auf den Fernseher zurück, streckt den einen Arm auf den Sterbenden hin, den anderen auf den Patientensohn, den sie mit glühendem Blick in der Ecke beim Fenster festschweißen will.
»Guter Mann, ich will Ihnen mal was sagen!«
Sie ist ganz offenbar in der Lage, ihm nur mit der Kraft ihres Sprachorgans das Gehirn in kleinste Partikel zu zerteilen.
»Nichts werden Sie mir sagen«, murmelt er, drückt sich an ihrem Zeigearm vorbei, greift sich den Rucksack, täschelt dem Alten die knöcherne Hand und entweicht aus dem Raum, in dem sich nun ein schriller Singsang ausbreitet, die große Klage der selbstlos Helfenden über die Angehörigen, die Pflegeversicherung und die Ungerechtigkeit der Welt.
Vor der Fensterscheibe zum Fluss sitzt noch immer die Magnolienvase. Vielleicht ist das wahres Glück: nichts mehr zu wollen. Die Demenz als organische Abart des Zen. Als er die schwere Tür hinter sich schließt, weiß er, es ist die einer Gruft, die zum letzten Mal ins Schloß fällt.
Das Wetter ist schäbig, feucht und kalt, der Wind streicht gebieterisch über die Stadt, bis Leerort und auf die Bingumer Brücke wird er ihn noch verdrossen vor sich hertreiben, so Fokko sich aber auf der anderen Flußseite Richtung Jemgum nordwärts wenden wird, hat er ihn eisigkalt und streitsüchtig von vorn. Der Rückweg wird nicht lustig werden.
Auf der Brücke hält er an.
Das Land ist ein trübes Aquarell. Der Fluß zieht bleiern ins Meer, Bingum ist nichts als ein wässriger Kleks Farbe im braungrünen Glencheck der Marschwiesen, von Papenburg kommt ein Binnenschiff heraufgekrochen, und würden hinter seinem Rücken die Autos nicht pausenlos hin und her zischen, wäre es sterbensstill.
Soll er die Episode beenden? Er könnte noch heute aus der Vergangenheit in die Stadt zurückkehren, sich eine andere Arbeit nehmen, anschauliche Bögen um das Crocodile ziehen und einen neuen Anfang machen, ohne den alten zu wiederholen. Oder er geht woanders hin, wo er Eva nicht einmal aus der Entfernung beäugt, versucht sein Glück in der Fremde, vielleicht mit Hilfe der magischen Zauberuhr. Wie Jakob Schwammheimer es sich vorstellt, der gute Freund: überhaupt kein Problem, reich zu werden, mächtig und berühmt, kein
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