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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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erkennt den Vater. Die Augen sind geöffnet und erstaunlich klar.
    »Was machst du hier?« fragt der alte Mann. Obschon ihm im oberen Kiefer das Stück Kunststoff fehlt, das ihm im unteren im Weg ist, sind seine Worte deutlich zu verstehen, und sein Blick folgt den verlegenen Bewegungen der Hand seines Sohnes. Ein gute Frage, denkt Fokko, spürt mit einem Mal den Suppenlöffel, den er die ganze Zeit in der Hand hält, und die Hilflosigkeit und der Ekel entzünden in ihm ein Feuer, das sich von einem tiefsitzenden Gefühl der Ungerechtigkeit nährt.
    »Ich soll dich füttern«, sagt er und winkt mit dem Löffel.
    »Das sagt man nicht«, erwidert der Alte.
    »Wie bitte?«
    »Du reichst mir das Essen an.«
    »Ja, natürlich.«
    »Aber nicht das hier«, krächzt er, und eine der Totenhände vollführt eine abwehrende Gebärde auf das Tablett hin, in der Fokko neben der Verachtung für das Anstaltsessen die uralte Liturgie des Herrschens wiedererkennt, und er begreift in diesem Moment, das Feuer, das in seinen Eingeweiden brennt, besitzt einen einfachen Namen: Angst.
    Es ist lächerlich.
    Die herrische Gebärde des Sterbenden, das fehlende Stück Zahnprothese, die Belehrung zur rechten Verniedlichung des Fütterns, all das ist von einer pompösen Lächerlichkeit. Er könnte den Suppenteller über der Bettdecke ausschütten, als hätte es der alte Mann selbst getan, er könnte ihm den Quark auf den Totenschädel klatschen, die Pillen in den Rachen werfen, ihm alle Leitungen abklemmen und den Raum verlassen, als hätte er ihn abgefackelt. Nichts könnte ihn aufhalten. Weder ein dahingekrächztes Wort des greisen Mannes, noch ein verzweifelter Blick aus den erlöschenden Augen.
    Aber das wäre nicht weniger lächerlich.
    »Ich habe was Besseres«, sagt Fokko, legt den Löffel auf das Tablett und stellt es auf den eingestaubten Fernseher. Dann kramt er in seinem Rucksack, fischt unversehens die Uhr heraus, legt  sie auf den Nachttisch neben den silbernen Bilderrahmen und findet endlich, was er gesucht hat. »Schokolade.«
    Der Alte macht so was wie ein fragendes Grunzen.
    »Halbbitterschokolade, Vater…!« Die Erklärung scheint der alte Mann nicht zu begreifen, aber das Geräusch, das entsteht, als sein Sohn die Tafel öffnet und ein Stück Schokolade abbricht. Seine Augen flattern, und er versucht, den Kopf zu der Seite zu bekommen, von der er offenbar den Kakaogeruch wahrnimmt.
    »Deine Zähne!« Auf Fokkos Netzhaut brennt das verschmierte Stück Plastik, das auf der Bettdecke liegt, als sei es unwillkürlich von sonst woher zwischen die Hände des Greises geraten, der die Worte hört, ohne sie zu verstehen.
    »Nimm deine Zähne rein!«
    Der scharfe Ton setzt etwas in Gang. Der alte van Steen hebt eine Hand, die erkennbare Absicht läßt sie zittern, die Finger flattern ihm davon, aber er faßt sich erfolgreich in den aufgerissenen Mund, pult das untere Stück Prothese hervor und läßt es mit der zu Tode erschöpften Hand auf die Bettdecke fallen, wo es nicht weit von seinem Cousin zu liegen kommt.
    Es hat alles keinen Sinn. Fokko schiebt ein Stück Schokolade in den Mund, der ihm die lange Zeit der Kindheit nahe gewesen ist, kaum einmal zärtlich, vielleicht gelegentlich mit kameradschaftlichen Worten, niemals jedoch berührt, in der Regel als ein Mechanismus, der Erklärungen produzierte: emotionslos wie der Bordlautsprecher der Borkumer Fähre. Jetzt ist er nichts als die häßliche, schlaffe Körperöffnung eines ekligen Tiefseebewohners, verdaut mit schwachen Bewegungen des eingefallenen Kiefers den halbbitteren Fang, gibt sporadisch ein Schmatzen von sich und bleibt zuletzt verschmiert und keuchend geöffnet, um scheintot darauf zu warten, daß der Zufall das nächste Stück Beute vorübertreibt. So spielt Fokko für eine Viertelstunde das Schicksal der Tiefsee, verfüttert die ganze Tafel an die gierige Kreatur, und als nichts mehr da ist, knüllt er das Papier zu einer Kugel, die er am liebsten abschließend in den ekligen Schlund stopfen würde, aber er läßt sie mutlos in den Papierkorb vor dem Bett fallen und tritt wieder an das Fenster.
    Nichts hat der Alte verdient. Nicht einmal, daß Fokko jetzt hier steht und einem Jungen zuschaut, der mit seinem kleinen Ruderboot auf der Ems herumpaddelt. Ein paar Enten ziehen dreieckige Ornamente auf den Fluchtpunkt zu, den ein alter Mann mit Mantel und Hut soeben mit einem Stück Brot gesetzt hat. Vor dem Haus steht der Lieferwagen einer Wäscherei, eine

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