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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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Laß es gut sein, Clemens, morgen ist auch noch ein Tag. Jetzt scheint das nicht unbedingt mehr zu gelten.
    »Die Medikamente bitte nach dem Essen verabreichen«, frohlockt Schwester Ulla und ist schon fast wieder aus dem Zimmer.
    »Wer soll denn…?« fragt Fokko und wirft einen hilflosen Blick auf das Tablett.
    »Sie!« Ihre Stimme ist nicht mehr besonders fröhlich, dafür aber umso schriller. »Wenn sich schon mal jemand aus der Familie herbemüht, kann er ihm auch das Essen anreichen. Wir machen das jeden Tag dreimal!«
    »Schwester Ulla?«
    Er verhindert in letzter Sekunde, daß die Tür zuknallt.
    »Was ist noch?«
    »Wie geht es ihm?«
    »Nicht gut.«
    »Und geistig.«
    »Mal so, mal so. An manchen Tagen kann man gut mit ihm reden, dann wieder liegt er nur da, spricht wirres Zeugs und jammert.«
    »Jammert?«
    »Na ja, nichts Schlimmes, eben wie ein kleiner Junge mit Bauchschmerzen.«
    »Danke«, murmelt Fokko, aber die sanftmütige Schwester hat die Tür schon geschlossen.
    Nun steht er am Bett eines Fremden, dem er Suppe, Quark und Pillen verabreichen soll. Wenn er in dem Untoten nur seinen eigenen Vater erkennen könnte, würde er ihm trotz aller vergangenen Divergenzen die Suppe reichen ohne diese Abscheu zu empfinden, die jetzt an ihm hochkriecht, als versänke er langsam in einem ekelerregenden Sumpf.
    »Vater!« sagt er wieder und berührt die Hand mit dem Ring.
    Mit einem merkwürdigen Schnaufen atmet der alte Mann ein, läßt die Luft sofort wieder entweichen und verliert damit die aufrechte Haltung, in die ihn die Schwester gezwungen hat, sackt in sich zusammen, öffnet die Augen und sieht mit demselben, verstörten Blick zu Fokko her.
    »Ich bin’s, dein Sohn!«
    Dazu drückt und streichelt er die Hand des Alten, aber mehr als ein belangloses Flattern der Augenlider erzeugt er damit nicht.
    »Du mußt was essen.«
    Fokko hält seinem Vater den Teller vor das Gesicht, schöpft mit dem Löffel etwas Suppe und berührt vorsichtig die tiefroten, mit violetten Flecken gesprenkelten Lippen, die sich tatsächlich ein kleines Stück weit öffnen. Als der Löffel den sperrigen Zahnersatz berührt, gibt es ein eigenartig künstlich klingendes Geräusch, und ein paar Tropfen Suppe rinnen in den Schlund, aus dem Fokko ein unangenehmer Geruch entgegenschlägt. Ein Gluckern ist zu hören wie aus einem verstopften Abfluß, dann schließt sich der Mund, die Augen sperren sich unnatürlich weit auf, das Gesicht bekommt plötzlich die Farbe der Lippen, die sich aufeinanderpressen, aus der Brust des Alten ist ein tiefes Grollen zu hören, da reißt der Rachen sich mit einem infernalischen Husten wie das Maul eines angreifenden Raubtieres auf, hundert feinste Tropfen sprühen über die Bettdecke und die Kleidung des barmherzigen Samariters, und als Fokko nach dem ersten Schreck die Augen öffnet und mit einem Taschentuch, das sich in der Schublade des Nachtschrankes findet, vergebens versucht, den Löffel Kartoffelsuppe aus der Welt zu wischen, entdeckt er zwischen den Händen des Vaters auf der Bettdecke das Oberteil seines künstlichen Gebisses.
    Er schaut dorthin, wo es fehlt. Der greise Kopf ist nun mit der direkt unter der Nase in den Schädel zurückweichenden Oberlippe auf keinen Fall mehr der seines Vaters. Ekel steigt in ihm auf, er wird sich alsbald revanchieren, wird einen ähnlich heftigen Raptus bekommen und den Friesentee und das Brot mit Hagebuttenmarmelade auf die Bettdecke spucken, wo sich die Moleküle seines Frühstücks mit denen der Kartoffelsuppe zu einer giftigen Substanz verbinden werden.
    Als stünde das Altenheim in Flammen, springt er hoch, zieht den Vorhang zur Seite und reißt das Fenster auf. Licht und Luft dringen in den Raum wie ein Fischschwarm, der sich aggressiv von Aussonderungen ernährt, von menschlichen Ausdünstungen, mikrobischen Schweißperlen und abgelebten Gefühlen.
    Ihm ist fürchterlich übel.
    Er lehnt im Fensterrahmen, atmet tief ein und betrachtet die Welt, als wäre sie nichts als ein wiederkehrender Fiebertraum. Ein Kind in einem grellroten Regenmantel führt einen grauen Hund in die Uferböschung, eine Motoryacht zieht still in todesnaher Langsamkeit über den Nebenarm der Ems, der Skipper am Ruder trägt schwarze Kleidung und raucht eine Zigarre. Für einen Atemzug glaubt Fokko, es könnte Jakob Schwammheimer sein, der ihm unauffällig auf den Fersen ist wie der Gevatter Mephisto.
    »Fokko!« hört er eine Stimme hinter sich röcheln.
    Er tritt an das Bett und

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