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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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glaube, der wollte sich ans Leben, Fokko. Ein junger Kerl. War kaum ein paar Jahre älter als ich. Mausetot hing er über seinem Steuerknüppel. Und hat gelächelt, wenigstens kam es mir so vor.«
    »Du hast es mir geschenkt.«
    »Ja«, sagt er und kommt allmählich wieder zu Atem, »zum achtzehnten Geburtstag.«
    Fokko erinnert sich, wie enttäuscht er war, als der Vater ihm das Messer überreichte als wäre es aus purem Gold. Zu seinem achtzehnten Geburtstag bekam er nichts als ein von einem abgestürzten Flieger geplündertes Taschenmesser, das der alte Herr jahrelang bei sich getragen, geölt, geschlifffen und zuletzt durch ein nagelneues Ankermesser ersetzt hatte. Der Sohn besaß damals wenig Sinn für Symbolik.
    »Sie lassen mich nicht mehr rauchen!«
    Jetzt hat er eine Stimme wie ein Kind.
    »Kann ich verstehen, Vater.«
    »Sie nehmen mir alles Geld!«
    »Welches Geld?«
    »Mein Geld.« Der sterbensalte Kopf neigt sich zur Seite, der trübe Blick zieht sich voller Verzweiflung auf den Nachttisch, in dem Fokko des Vaters Portemonnaie weiß. Der alte Mann ist fürchterlich hilflos, abhängig und einsam. Fokko holt die Uhr hervor, öffnet sie und legt sie auf den Nachttisch. Die bedingungslose Stille ist ein himmlisches Balsam. Ob er unter einem Zeitstillstand Musik hören kann? Im absolut geräuschlosen Weltraum für ihn ganz allein eine Bachsche Kantate oder ein Concerto von Vivaldi? Nicht ein einziges geflüstertes Wort, kein Räuspern oder Rauschen, allein sein eignes Herz, das im Takt der Musik schlägt, die sich ausbreitet und erklingt wie nie zuvor.
    Vielleicht muß er nur die Anlage berühren.
    Er öffnet die Schublade, holt das Portemonnaie hervor und durchsucht es. Nur ein paar lächerliche Münzen, kein Papiergeld, sein Ausweis und eine Karte von der Versicherung, mehr bleibt offenbar nicht am Ende eines Lebens. Er steckt dem Vater ein paar Scheine und etwas Hartgeld zu, legt die Geldbörse zurück, schließt die Schublade, dann die Uhr, die er wieder im Rucksack versenkt.
    »Soll ich mal nachschauen?«
    Des Vaters Kopf nickt.
    »Hier?« fragt er, öffnet die Schublade, holt das Portemonnaie hervor und zählt das Geld. »Es sind noch bald fünfzig Euro.«
    »Ja?« Die greise Hand will für diesen Augenblick zum Geld, aber das gehört wohl schon zu einem vergangenen Leben. In den Augen steht eine Ratlosigkeit, die wie ein langsamer Virus von dem alten Mann Besitz ergriffen hat. Fokko legt das Geld zurück und steht auf.
    »Ich muß jetzt los.«
    Der Vater nickt abermals.
    »Komm bald wieder!« sagt er und schließt die Augen.
    »Ja.«
    Der Besuch muß dem alten Mann vorgekommen sein wie ein wirrer Tagtraum. Schwester Ulla, ich habe eben geträumt, mein Sohn wäre gekommen, Fokko, wissen Sie, der ist jetzt ein gemachter Mann in der Großstadt, und er hatte das Messer dabei, wissen Sie, das…
    Vor dem Zimmer trifft er eine ältere Pflegerin.
    »Kommen Sie wieder?« fragt sie.
    Fokko schüttelt den Kopf und geht, ohne sich noch einmal umzusehen.
     
    Ohne eine Unterbrechung fährt er bis Pogum hoch ans Ende der Welt. Der Wind hat auf ihn gewartet, ein naßkalter, störrischer Spielkamerad, der sich ihm entgegenstemmt, um die Ecken pfeift und von der See her schwarze Wolken über das Land schiebt, aber Fokko weiß ihn seit langem zu nehmen, duckt sich ein Stück weit über die Lenkstange, hat bald einen gemächlichen, gleichmäßigen Rhythmus des Tretens gefunden und straft den Wind, indem er nicht an ihn denkt, nicht an die Langsamkeit, die scharfe Kälte und den endlos langen Weg.
    An seinen Vater denkt er, der Tag und Nacht in einem fremden Bett liegt, ungestorben und besinnungslos, das lange Leben gespenstert ihm als wirrer Traum durch das morsche Hirn, der Speichel fließt ihm aufs Kissen, das Wasser in einen transparenten Plastikbeutel. Fokko weiß nicht zu unterscheiden, welches Gefühl ihn stärker nach Westen treibt, ist es die Wut oder die Verachtung, von der er sicher weiß, wie überheblich sie ist, die häßliche Schwester der Nachsicht, und die Wut richtet sich gegen ihn selbst, der er keine Ahnung hat, welch ein Leben sein Vater gelebt hat, welche Gefühle in seinem Herzen gärten all die langen Lebensjahre nach der Kindheit, von der er nie mehr verraten hat, als daß sie schwer war: und Fokko hatte sich einen Kasten vorgestellt, in dem die frühen Jahre des Vaters aufbewahrt waren wie eine eiserne Reliquie.
    Zwischen Ditzum und Pogum hört der Regen auf. Der Wind läßt nach, und weit

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