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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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einreißen, nichts zersägen und verfeuern, nicht einmal groß räumen oder streichen, wird sich beschaulich in das einfinden, was ist, wird das alte Leben dieses Hauses nicht verletzen, es höchstens sehr behutsam den Bedürfnissen anpassen, die sich in ihm entwickeln werden.
    »In mir selbst werde ich einiges einreißen, verfeuern und überstreichen«, sagt er halblaut und macht mit der Hand auf der Tischplatte eine wegstreichende Bewegung. »Ich werde den Dingen keine neue Ordnung geben. Wohl eher sie mir.«
    Plötzlich spürt er, jenseits aller Genügsamkeit fehlt ihm etwas sehr dringend: wie man in was vertieft war und unversehens von einem Durst angefallen wird, als müßte man auf der Stelle austrocknen. Aus dem Wohnzimmer trägt er das alte Radio her, geht ihm mit dem Staubsauger an den klobigen Leib, wischt es mit einem feuchten Tuch sauber, stellt es auf den Kühlschrank und schließt es an. Es ist ein Röhrengerät und benötigt eine Weile, bis es vorgewärmt und funktionsfähig ist.
    Das haben wir verlernt, denkt Fokko und beobachtet das magische Auge, wie es langsam an Intensität gewinnt. Abzuwarten, bis etwas beginnen kann. Einen Diesel vorglühen. Die Flut steigen lassen, um auf eine Insel zu fahren, sie fallen lassen, um ins Watt zu gehen.
    »Ich werde die Zeit auf meine Art anhalten«, sagt er, sucht seinen Sender und bald erfüllt warme Streichermusik den Raum, es ist, als flute sie das Haus mit verflüssigter Wehmut, es ist der ganze Klang, weder beschnitten durch einen Kopfhörer oder gar ein häßliches Wort. Es ist pure Musik, die ausschließlich ihm gehört, in ihm klingt.
    »Ausgerechnet Vivaldi«, spricht er still, schließt die Augen und versenkt den Kopf in die Hände. Diese Klänge dringen ungefiltert in ihn. Einzig die Musik ist in der Lage, Gefühle über ewige Zeiten zu konservieren. Hätte man die Partitur zum achten Konzert verstaubt und unaufgeführt auf einem Dachboden gefunden und brächte Vivaldis Komposition nun erstmalig zu Gehör, so verstünde man gleichwohl mit dem allerersten Takt die elegischen Befindlichkeiten, die den genialen Italiener vor so langer Zeit angerührt haben.
    Er nimmt die Hände vom Gesicht und reibt sich die Augen. Das gehört ihm nun ganz. Es wird niemand da sein, der ihm freitags um vierzehn Uhr synkopische Takte zwischen Die barocke Note schlägt, niemand, der mit hohen Absätzen oder scharfen Worten atonal in die Adagios und Larghettos fährt, sich poco a poco in sein Bewußtsein schleicht und ihm suggeriert, das Hören alter Musik sei eine Art innerer Fäulnis.
    Eine einfache Arbeit wird sich ohne weiteres finden lassen. Am Haus und im Garten ist zudem genug zu tun, den Rest der Zeit wird er Musik hören, die Malerei des Goldenen Zeitalters studieren und hin und wieder nach Ditzum radeln und nach Leer. Weiter nichts. Höchstens, daß er noch auf einen Anruf wartet von der Meldebehörde. Sie wird jedoch kaum eine bemerkenswerte Neuigkeit vermelden, er wird zu Dienstzeiten vorbeischauen, die fällige Gebühr entrichten und einen guten Tag wünschen. Sie wird ihm ein neuerliches Lächeln schenken, aber er weiß, es ist lediglich der Ausdruck ihres guten Charakters und der mustergültigen Dienstauffassung. Und die liebe Zeit wird ohnehin das ihrige tun.
    »Wo ist es eigentlich?« fragt er, setzt die Teetasse, die er eben zum Mund führt, auf die Untertasse zurück und drückt mit zwei Fingern gegen seine Stirn. Er ist sich sicher, er hat es bereits einmal gesehen. Aber nicht heute. Antonio Vivaldi folgt ihm in den Flur. Dort ist es nicht. Dann im Wohnzimmer. Da steht es tatsächlich mausgrau auf der Arbeitsplatte des Sekretärs, ein Modell aus Kunststoff mit einer Wählscheibe, vorn ein kleines Fenster, in dem der Vater einst mit seiner steilen, unsicheren Schrift die drei Ziffern notiert hat: drei, acht, sieben. Es sieht nicht aus, als könnte es noch funktionieren. Vorsichtig nimmt er den Hörer ab und wählt seine Nummer. Es dauert, bis das erste Rufzeichen ertönt. Die weiteren folgen in großen Abständen und nur widerwillig, wie ihm scheint. Hier oben, am Ende der Welt, ist offenbar alles verlangsamt und verzögert wie die Sprache eines Idioten, der vergeblich versucht, sich gewählt auszudrücken.
    »Ja?«
    Es ist Eva. Er legt den Hörer auf. Das kleine Wort hat sich durch die brüchigen Leitungen des Telefons quälen müssen, aber es wirkt wie ein Projektil, das man ihm injiziert hat, ein aggressives Virus, das ihm den Schweiß auf die Stirn

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