Die Uhr der Skythen (German Edition)
bringen. Später fährt er nach Ditzum, kauft ein, schaut kurz in der Pfefferstraße vorbei, aber es ist niemand dort. Zum Abend kocht er sich eine Kartoffelsuppe, durchblättert die Malerei des Goldenen Zeitalters und hört im Radio ein Konzert mit Werken von Bach und Brahms.
Am folgenden Tag fährt er nach Jemgum, gibt den Film in eine Drogerie, schließt das Rad an Hamelmanns Zaun an und nimmt den Bus nach Leer. Die Kirchturmuhr zeigt kurz nach zwei. Heute ist Freitag. Im Radio läuft zur Zeit Die barocke Note.
Im Eingangsbereich des Altenheims wird gerade die Weihnachts-Dekoration abgebaut, die ihm beim ersten Besuch überhaupt nicht aufgefallen war. Die Frau mit der Magnolienvase sitzt stumm vor dem Fenster und versucht offenbar, die Bäume da draußen, die Passanten und das kleine Ruderboot, das sacht auf dem Wasser der Ems schaukelt, von der Scheibe zu pflücken. Auf einem Gang spricht ihn ein Herr mit angsterfüllten Augen an, fragt nach dem Weg zum Bahnhof und der Uhrzeit, und als Fokko wahrheitsgemäß antwortet, läßt er die alten Hände mutlos sinken, sein Blick verfällt in tiefe Trauer, und mit einem schweren Seufzer schlurft er davon. Die Gefangenschaft in der Demenz kann wohl unterschiedliche Färbungen besitzen. Der eine lebt in einem muttermilchwarmen, unendlichen Traum von der Kindheit, der andere existiert für den Rest seines Lebens in der großen Not, den Zug nicht zu verpassen.
Als erstes schlägt ihm wieder der giftige Geruch entgegen. Er tritt ans Fenster und öffnet es. Draußen streiten sich irgendwo zwei Kinder mit schrillen Stimmen. Vater wird diesen Raum nur noch auf eine ganz bestimmte Art verlassen. Er schaut sich um. Es ist alles wie beim ersten Mal. Die Hand ruht auf der Bettdecke wie die des Knochenmannes, der Atem rasselt, das faulende Bewußtsein durchirrt vermutlich einen Dschungel von freigelassenen Bildern und Gedankenfetzen, oder ist in einer Folterschleife verschnürt, in der die selbe kleine Geschichte wieder und wieder von vorn erzählt wird.
Das hier ist das Fegefeuer.
Der Vater wäre besser beim Reusensetzen von der Flut überrascht worden, auf der Werft hätte ihn ein stürzender Balken oder bei der Gartenarbeit der Schlag treffen sollen. Aber dann wäre Fokko zu spät gekommen. Er setzt sich an das Bett und nimmt die uralte Hand in die seine.
»Vater«, sagt er leise.
Der hält die Augen geschlossen, aber dahinter scheint er in Bewegung, es zucken ihm die Lider, er verzieht den Mund, als ob er etwas sagen wollte, aber die Lippen scheinen ihm unlösbar aufeinander zu kleben.
»Ich bin’s. Fokko!«
Wann stirbt die Persönlichkeit? Unter Umständen lange bevor die Körperfunktionen still versiegen. Das Bewußtsein ist gewohnt, in allen möglichen Zwischenreichen zu existieren, es bindet sich niemals so linear an die materielle Erscheinung unseres Selbst, wie wir es wahrhaben möchten, es verläßt uns jede Nacht und flüchtet in Welten, die vollkommen fremd sind, obwohl sie zu uns gehören. Es braucht nur eine minimale Dosis Gift, um sich zu verselbständigen, aber das berüht es nicht wirklich, weil wir mit dem ganzen Rest an es gebunden sind. Somit sind Körper und Verstand nur unwesentliche Teile unseres Selbst, vollkommen abhängig von dem, was man Seele nennen könnte. Eigentlich, denkt Fokko, eine Art Gottesbeweis.
»Ich wohne jetzt in unserem Haus«, sagt er.
Der Vater tut einen schweren Atemzug.
»Erinnerst du dich an die alte Zuckerdose im Küchenschrank?«
Fokko wartet einen Moment, dann kommt die Maschine, die für den Atem verantwortlich ist, keuchend zur Ruhe, und es öffnen sich die alten Augen für einen Blick voller konfuser Schwermut.
»Ja«, haucht der Alte, und sein Atem kommt stoßweise und schnarrend wieder in Gang.
»Unter dem Kandis hab ich einen Orden gefunden. Sieht irgendwie aus wie ein englischer Fliegerorden.«
»Da ist kein Orden.«
So hat es früher funktioniert. Er konnte die Wirklichkeit schon immer verändern. Durch ein einziges Wort. Mutter erzählte beim Abendbrot vom einem Kriegsschiff, das sie auf der Ems gesehen hatte, nebelgrau, still und schnell. Da war kein Kriegsschiff, sprach der Vater, und es war das Wort des Gesetzes. Die Mutter schwieg das einfach weg. Der Sohn ist beinahe dran verzweifelt, weil er partout an das Naturgesetz der Objektivität glaubte. Selbstverständlich konnte nur eines richtig sein: das Schiff war auf der Ems gewesen oder es war dort nicht gewesen. Die Eltern indes hatten keine größeren
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