Die Uhr der Skythen (German Edition)
schließt die Schublade und öffnet die nächste. Die Dinge des Geldes: verknitterte Kontoauszüge, ein uraltes Kassenbuch, in das der Vater Einnahmen und Ausgaben penibel notiert hat, Schriftverkehr mit der Sparkasse, ein Umschlag mit Reichsmarknoten und ganz unten bordeauxrot und mit einem goldenen Emblem eingestanzt wie der Pass einer Bananenrepublik ein Sparbuch.
Der letzte Eintrag liegt mehr als zehn Jahre zurück. Da hat der Vater an einem Tag im Mai fünfzig Deutsche Mark abgehoben. Und der denkwürdige Rest ist eine Summe, die Fokko für einen Moment lang den Atem verschlägt: mehr als fünfundsechzigtausend Mark.
Eines Tages wird es ihm gehören, damit könnte er das Nötigste am Haus renovieren, ein paar Anschaffungen machen und den Rest weglegen, wie der Vater es auch gemacht hat: für schlechte Zeiten, Fokko. Es wird auch ein reguläres Konto geben, auf das seine Rente eingeht, von dem das Heim bezahlt wird und dergleichen. Er muß sich um die finanziellen Dinge kümmern und um eine Vollmacht, die der Vater unterschreiben sollte, solange er es noch kann. Wahrscheinlich weiß niemand sonst von diesem Sparbuch, sonst wäre es längst von der Sozialbehörde geplündert worden.
Er verstaut es wieder unter den anderen Papieren. Merreth, kommt ihm in den Sinn, ist Teil der Behörde. Vielleicht verwaltet sie ja seit Jahr und Tag seinen Vater? Dann hätte sie heute morgen wohl was gesagt. Oder auch nicht. Möglicherweise gibt es in den Belangen der Sozialfürsorge eine Schweigepflicht.
In der letzten Schublade findet sich ein Fotoapparat, eine Agfa-Kamera im Lederetui, mit der Bedienungsanleitung und einer Quittung aus den Fünfziger Jahren. Fokko öffnet das Etui und schaut durch den Sucher aus dem Wohnzimmer in den Zementhimmel über der Hecke. Durch diesen Ausschnitt hat der Vater die Mutter gesehen, den Sohn doch gewiß auch, die Verwandten und Arbeitskollegen, die Landschaften, den Garten und die Zeit, die verstrich, als wäre sie der Fluß, dessen Bewegung man an ruhigen Tagen vom Deich aus nicht erkennt.
In der Kamera steckt noch ein Film. Im Fenster auf der Rückseite steht eine schwarze Drei auf rotem Grund. Ein Rollfilm also. Zwei Fotos hat er noch gemacht, dann weitergedreht und nicht geahnt, daß er eben die letzte Fotografie seines Lebens geschossen hatte. Wird ebenfalls eine gehörige Zeit vergangen sein seitdem. Vielleicht kann man die Bilder noch entwickeln, und vielleicht noch ein neues fotografieren.
Er nimmt den Fotoapparat mit hinaus auf den Kirchring, stellt Verschlußzeit und Blende nach Gutdünken ein, dreht den Film vorsichtshalber bis zur Vier weiter und macht ein Bild vom Haus: die wilde Hecke, der verwunschene Zugang und das vom Efeu gefressene Dach. Dann kommt ihm eine Idee. Er geht in die Küche, holt die Zuckerdose, kippt den Zucker abermals auf eine Zeitung, nimmt die Zauberuhr und legt sie geöffnet unter die Lampe auf den Tisch. Das Objektiv läßt als größte Nähe achtzig Zentimeter zu. Er steigt auf den Stuhl und macht mit verschiedenen Einstellungen zwei Fotos von der Uhr.
Es ist absolut still. Aber sonst geschieht hier sowieso nichts, am Ende der Welt. Fox wird auf der Ems festkleben, seine Helene merkt nicht, wie lange sie am Hafen auf die Fähre und ihren Liebsten wartet, Hamelmann hockt fossil über einem Folianten, in dem er einen Gedanken gefunden hat, den er gleich wieder verloren haben wird, und der Vater in seinem Siechenbett kann schon lange nicht mehr unterscheiden, was Tag ist und was Nacht, was Traum, Wirklichkeit oder Gespinst.
Die Uhr zeigt keine Veränderung. Er müßte das Foto haben, das Schwammheimer neulich gemacht hat, aber das hat er elegant in der Schreibtischschublade verschwinden lassen, in der sein Zahlenbuch liegt. Vielleicht hat er nun ein brauchbares Bild. Aber er wird damit nichts anfangen. Die Zeit hat für ihn ihr rechtes Maß zurückgefunden. Er braucht die Uhr nicht. Gibt sie zum gestohlenen Fliegerorden, läßt den Kandis darüberkullern und stellt sich vor, auf diese Art funktionierte die Erinnerung, abhängig vom Seewind, der auf der Insel Borkum den Strand entlangjagt, und wenn er auf einen Gegenstand trifft, beißt er sich so lange an ihm fest, bis er ihn unter den feinen Sandkristallen begraben hat: auf alle Zeit verschwunden und vergessen, niemals wieder ans Licht zu holen und ins Bewußtsein zurück.
Den Nachmittag verbringt Fokko damit, die Hecke zu schneiden, den Weg zur Haustür zu fegen und die Heizung in Gang zu
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