Die Uhr der Skythen (German Edition)
treibt, die Finger zittern läßt und in seinem Kopf Bilder erzeugt, im Herzen Gefühle, die eindeutig zur Vergangenheit gehören und gleichwohl absolut real und wirksam sind.
»Es funktioniert«, sagt er. »Als hätte man direkten Kontakt zum Fegefeuer.«
Das Innenleben des Sekretärs besitzt in der Mitte drei Fächer, in denen Geschäftsbriefe, behördliche Bescheide und ein paar Prospekte liegen. Es ist, als hätte der Vater dort die Post der vergangenen Tage gestapelt, um sie am Wochenende zu erledigen. Zu den Seiten sind vier Schubladen mit Fallgriffen aus Messing. Fokko öffnet eine. Sie ist voll mit Fotos.
Wie hat der alte Hamelmann gesagt?
»Es gibt die Vergeßlichkeit nicht.«
Das erste Foto zeigt den von der Sturmflut in den Sechziger Jahren zerfressenen Deich, in den der Blanke Hans reingebissen hat, daß man seine wilden Zähne ahnt. Danach das alte Siel, das Fokko nur vom Hörensagen kennt. Ein paar Mann in schwarzen Anzügen stehen mit ihren Prinz-Heinrich-Mützen dabei und begutachten die Schäden oder planen bereits das neue Schöpfwerk. Dann diverse schwarz-weiße Geburtstagsfeiern, auf dem Tisch zum Tee ein Likör, dann holte man auch den Fotoapparat hervor: der Jubilar mit einer Zigarre in der Tür seines Hauses, die Frauen mit flatternden Kleidern am Gartenzaun, die Herren schwarz und staksig auf der Deichkrone wie eine alte Rabenschar.
Unter den Familienfotos finden sich einige vom Strand, wahrscheinlich auf Borkum, wo sie nie, wie der Vater betonte, als Touristen durch den Sand stapften, sondern lediglich den unvermeidlichen Spaziergang mit der Verwandtschaft machten. Das Meer war für ihn keine Schönheit, an deren lieblichen Gestaden man lustwandelte, war ein rauher Geselle, dem man das Leben und das Auskommen in stetem Kampf und dauernder Wachsamkeit abringen mußte. Es sind jedoch keine Fotografien dabei, die den Alltag des Vater zeigen, den Tischlerberuf jedenfalls nicht, das war irgend weit weg und mag sich allenfalls in ein paar vergilbten Abzügen von einer Betriebsfeier in einem Gasthaus niederschlagen, aber die Gartenarbeit und die täglichen Wege mit dem Schlickschlitten ins Watt, das hat nie jemand dokumentiert, und so kann man glauben, die Leben der vergangenen Generation hätte aus nichts anderem bestanden als aus Familienfesten, Ausflugsfahrten und kleinen Naturkatastrophen.
Nebenher finden sich ein paar Porträts, überzählige Passfotos wahrscheinlich, eines von der Mutter aus den frühen Jahren, vielleicht um die Zeit, als die Fotografie der Eltern vor ihrem Haus gemacht wurde, die der Vater im Altenheim auf dem Nachttisch stehen hat: eigentlich eine hübsche, junge Frau, aber sie steckt in den gedeckten Kleidern einer alten, und in ihren Augen steht irgendeine unglückselige Geschichte zu lesen: als wäre sie eine Kriegsgefangene. Ein anderes Foto zeigt das junge Paar auf einer Brücke, im Hintergrund diverse Kirchtürme und ein wolkenloser Himmel. Der Mann deutet mit einem Lächeln aus dem Bild hinaus, der Blick der Frau an seiner Seite folgt seinem nicht, trifft mißtrauisch in das Objektiv der Kamera oder streift bekümmert den des unbekannten Fotografen.
Ob sie ihn je geliebt hat?
Gewiß. Unter den vielen Belanglosigkeiten findet sich ein Foto bei einer Hochzeit, einem runden Geburtstag oder derlei. Man tafelt im Freien unter einem Baum und zwischen den Eltern sitzt eine Schwester oder Schwägerin ähnlichen Alters, die drei lachen aus vollem Herzen, und ein ungetrübter Blick der Mutter findet über die ganze Länge der Aufnahme den ihres Mannes.
Wenig ist das, was er über seine Mutter weiß. Nicht wie Schwammheimer, der das ganze Leben und die vollständige Familiengeschichte in einer lebendigen Dachkammer verwahrt. Aber Fokko wird sich in nächster Zeit an manches erinnern. Er legt die Fotos zurück und schließt die Schublade. Vielleicht ist es nicht zu glauben, aber die Eltern haben zweifellos ein eigenes Leben gelebt. In der nächsten Schublade finden sich nebulöse Spuren davon: Angelschnur und Fischmesser, ein silberner Ring, das gerahmte Foto eines Kleinkindes mit blonden, lockigen Haaren, ein Kästchen mit Manschettenknöpfen, eine Geldbörse mit ein paar Pfennigen und ein schmales Bändchen mit den Psalmen.
»Nichts ist willkürlich«, sagt Fokko, schlägt eine beliebige Seite auf und liest: »Verbirg dein Antlitz vor meiner Schuld und tilge alle meine Sünden!« So wird die Mutter gedacht haben, so gefühlt. Er legt das Psalmenbuch zurück,
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