Die Uhr der Skythen (German Edition)
es gehört keinem und eigentlich nicht einmal ihr selbst. So blöd es sein mag, dieser Gedanke tröstet ihn.
»Danke«, sagt er matt, greift den Rucksack, macht im Aufstehen eine sonderbar schräge Verbeugung und ist schon aus dem Raum. Der letzte Blick, ehe er die Tür schließt, zeigt ihm, wie sie dem neuen Klienten die linke Hand entgegenstreckt. Das mag alles mögliche bedeuten, aber für Fokko ist es eine Gebärde größter Vertrautheit.
Er kann nicht gleichzeitig nachdenken und die Balance halten, deswegen schiebt er sein Rad. Es ist mißglückt. Es ist von vornherein die Idee eines Wahnsinnigen gewesen. Wie kann man glauben, eine vollkommen fremde Frau würde auch nur beiläufig von einem Notiz nehmen, nur weil man eine so barmherzige wie flüchtige Berührung arrangiert hat, und weil sie zufällig aus genau der Einöde stammt wie man selbst. Sie besitzt ein eigenes Leben, eine eigene Geschichte. Vielleicht ist sie ja verheiratet und hat drei kleine Kinder.
Da bewegt sich ein Schatten in seinem Augenwinkel. Eine hohe, dunkle Gestalt durchmißt mit erhabenen Schritten Hamelmanns Garten. Fokko schaut genauer hin. Er ist es selbst, der unsterbliche Herrscher des gedruckten Wortes, der zeitlose Nuntius einer Republik der Gelehrsamkeit, der ihnen vor Jahrzehnten die Küstenlyrik der Heimatdichter ebenso nahegebracht hat wie die kaufmännische Arithmetik, die Rheiderländer Geschichte und die Wertschätzung des Wattenmeeres. Gewissermaßen en passant hat er eine Noblesse vorgelebt, die sie damals wohl kaum verstanden, allenfalls Fox, der sie sui generis besaß und die des geliebten Erziehers mit der Verweigerung, für die Entlaßfeier eine Kirche zu betreten, auf eine harte Probe stellte.
Nun schreitet Hamelmann in einem knöchellangen, schwarzen Mantel, unter dem er mit Sicherheit einen grauen Anzug trägt, wie der Hohepriester der Literatur um seine Bücher verdauende Villa, hat einen aufgeschlagenen Band in den Händen und betet offenbar sein Brevier.
Fokkos Blick reicht, um Hamelmanns Umlaufbahn zu beeinflussen. Mit einem fragenden Lächeln schaut er herüber, verlangsamt die Schritte, tritt an den Zaun und durchsucht in seinem schlanken Kopf die Schülerkarteien der vergangenen vierzig Jahre.
»Steen«, sagt er dann und grinst wie bei ihrer allerersten Begegnung. Sein Haar ist heute schlohweiß, aber der Scheitel verläuft millimetergenau auf der lebensalten Linie, die sich gewiß längst in des Lehrers Schädeldecke eingegraben haben wird. Seine Haut ist grau wie Recyclingpapier, aber perfekt rasiert, wenig faltig für einen Mann, der sein achtzigstes Lebensjahr überschritten haben dürfte, die Nase schnurgerade und symmetrisch wie der Charakter ihres Besitzers, die Augen klein, wach und von den vielen Erfahrungen und der gnadenlosen Zeit kein bißchen getrübt. Eigentlich hat er sich nicht verändert.
»Ja«, sagt Fokko. »Moin, Herr Hamelmann!«
»Ich habe vor einer Weile ein Traktat über die Erinnerung gelesen«, sagt er und legt das Buch auf einen Zaunpfeiler, um die Hände frei zu haben, mit denen er illustrieren wird, was er erläutern will. Fokko erinnert sich. Es gab sie schon immer, diese stille Gebärde des Innehaltens und Sammelns, mit der er wie ein ehrwürdiger Dirigent vor der Klasse stand, ob er nun den Querschnitt eines Deiches oder die Präpositionen veranschaulichen wollte, die mit dem Dativ gehen.
»Wir stellen uns unser Gedächtnis wie eine Bibliothek vor, in der Geschichten aufbewahrt werden, Bilder, Melodien und Gerüche. Ein Sammelsurium von Sinneseindrücken, die wir idealerweise sauber beschriftet, katalogisiert und mit geistreichen Schlagworten versehen haben. Diese Bibliothek dürfte auch ein renommiertes Nachschlagewerk oder heutigentags ein Computer sein, aber in unserer Vorstellung geschieht immer dasselbe: was uns in den Kopf kommt, wird chronologisch und nach der Bedeutung gespeichert oder aussortiert. Dabei sind Gefühle Stabilisatoren, die das Erinnerte tiefer einschreiben, gewissermaßen fettgedruckt. So ergibt sich im Laufe eines Lebens ein Foliant, in dem wir blättern und im Prinzip jeden vergangenen Eindruck aufspüren können, wäre nicht manche Seite verklebt oder unleserlich geworden. Aber irgendwo steht alles da, was jemals in unser Gedächtnis geschrieben worden ist. So gibt es die Vergeßlichkeit nicht wirklich, allenfalls mißlingt uns der Zugriff auf eine Information.«
Hamelmann schaut seinen ehemaligen Schüler erwartungsvoll an.
»Ja«, sagt Fokko
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