Die Uhr der Skythen (German Edition)
Elefantenohren und die gräßlichen Pferdezähne dem Vater zu einer vulgären Fratze verfälschen, das warme Licht in den Augen entdeckt.
»Fokko?«
»Ja?«
»Jetzt, wo du bleibst, kann ich in Ruhe gehen.«
Fokko schüttelt den Kopf. »Ja.«
Zitternd fährt der Alte über seinen Stoppelbart, die Stirn hinauf und über die Augen, die er mit dieser Bewegung schließt, als ginge das nur noch mit Hilfe der Hand.
»Wo willst du zu liegen kommen?«
»Eigentlich dachte ich immer, daß man meine Grube auf dem Pogumer Friedhof aushebt. Aber ich will an der Seite deiner Mutter liegen. Sie ist mir vorausgegangen, und das war ihr inständigster und einziger Wunsch: auf der Insel begraben zu werden.«
»Auf der Insel?«
»Wo sie schließlich herkommt.«
»Borkum?«
»Natürlich.« Der Vater öffnet die Augen und betrachtet ihn mit einem Blick, der zwischen Mißtrauen und Belustigung zu schwanken scheint.
»Natürlich.« Fokko stellt die Kaffeetasse zurück und räumt das Tablett zur Seite. »Was war mit Mutter?«
»Wieso?«
»War sie glücklich?«
»Ja. Aber Glück war damals nicht das, wonach man strebte.«
»Wie bitte?«
»Man erwartete es nicht.«
Der graue Tag wird dämmerungslos zur frühen Nacht. In einer eigenartig verzögerten, die zurückweichende Wirklichkeit verlierenden Fahrt durchmißt der Bus die karge Landschaft, die wenigen Lichter jenseits des Flusses glitzernd sternenweit entfernt, und zwischendrin kommt es Fokko vor, als müßte diese schweigende Reise den Rest seines Lebens währen, weil sich im Inneren des großen Fahrzeugs schleichend das Gift der Erinnerungslosigkeit ausbreitet, das auf den wenigen Kilometern zwischen Leer und Jemgum sein Bewußtsein vertilgen wird, wie es dem Vater über lange Zeit widerfährt, in manchem, traumähnlichen Augenblick von euphorischer Klarheit, über die endlosen Strecken der Einsamkeit stumpf geworden, abgenutzt, weggefressen wie die irdischen Reste der Mutter von den Würmern in der Borkumer Erde.
Er hat es tatsächlich nicht gewußt.
Er hat sich selbst nicht danach gefragt, als er über den Pogumer Kirchhof flanierte und an den Gräbern der Oltmanns und all der anderen vertrauten Familien innehielt. Er hat sich an den Tod der Mutter erinnert, gewiß, aber sie hat ihm auf dem kleinen Friedhof in der direkten Nachbarschaft des Elternhauses nicht gefehlt und dennoch hat er nicht gewußt, weiß eigentlich bis jetzt nicht, daß sie auf der Insel begraben liegt, auf der sie vor ewiger Zeit geboren wurde. Wo lebt sie denn in seiner Erinnerung? In seiner eigenen Kindheit natürlich, auf irgendwelchen Fotografien als fremde, junge Frau wohl weniger, vielleicht hat er sich stets vorgestellt, sie liege irgendwo in Emden, in der Nähe des Hospitals, in dem er sie das letzte Mal gesprochen und berührt hat. Wie alt war er da, als er mit ihrem Rad heimgefahren ist und nahezu den Weg aus den tränenerfüllten Augen verloren hätte? Fünfzehn Jahre vielleicht? Seine Erinnerung aus dieser Zeit scheint fast komplett gelöscht. Er hat die Mutter offensichtlich auf seine eigene Art begraben. Er wird baldmöglichst auf die Insel Borkum fahren, um an ihr Grab zu treten.
Als der Bus hält, sind die letzten Reste des Tageslichts in den Wiesen jenseits des Ortes versickert. Fokko steigt aus. Es geht kein Wind, die Luft ist feucht und kalt, aber irgend scheint das Wetter ratlos. In den Fenstern der Hamelmannschen Villa glimmt das ewige Licht der Gelehrsamkeit, im Rathaus dagegen herrscht die Finsternis der Bürokratie. An einem Freitagnachmittag wird es weder Aufenthaltsgenehmigungen noch Ummeldungen geben, die Formulare ruhen in den Schubläden, die Anzeigen, Verfügungen und Anträge sind auf Festplatten gespeichert und erst am Montagmorgen tritt alles wieder in Kraft.
Wo sie wohl wohnt? Und bei wem oder mit wem? Eine unerfreuliche Geschichte hat sie angedeutet, als er gestern vor ihrem Schreibtisch saß, eine Art Unglück, das sie gottlob unversehrt überstanden habe. Das muß ihr in Osnabrück widerfahren sein. Und hier?
Er schiebt das Rad zur Tankstelle, kauft ein Päckchen Tabak, eine Tafel Schokolade und fragt, wie das Wetter wird.
»Ungemütlich.«
Für die zehn Kilometer nach Ditzum benötigt er bald eine Stunde. Nicht etwa, weil ihm der Nordwest entgegenstünde, wohl eher, weil er durch einen Sturm der Erinnerungen radelt, ein wildes Meer verloren geglaubter Bilder und Hoffnungen, Enttäuschungen und Gravuren, die seit langem von entfernten Geschichten
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