Die Uhr der Skythen (German Edition)
Villa voranfressen. Noch erkennt man alte Strukturen wie die Treppe, die in einem großzügigen Bogen in das obere Geschoß führt, von wo aus verborgenen Fenstern Lichtstreifen auf den Keramikboden der Eingangshalle fallen, aber auf jeder Stufe liegen sinnfällig geordnet erscheinende Stapel und lassen nur den Raum einer schmalen Stiege nach oben frei. Die Fensterbänke werden ausnahmslos als Magazin genutzt, an jeder Wand finden sich raumhohe Bücherschränke, zwischen denen hier und da ein altes Ölgemälde zu erkennen ist, eine verlorene Landschaft oder das Porträt eines lange verstorbenen Präsidenten der Gelehrtenrepublik. Zu den Seiten stehen Türen offen, geben den Blick in weitere Bibliotheken frei und werden sich niemals wieder schließen, da in ihren Rahmen, auf ihren Schwellen und in den Schatten ein unverwüstliches Korallenriff aus Folianten, Paperbacks und Fibeln gewachsen ist.
»Gibt es ein System?« fragt Fokko.
Hamelmann lächelt, nickt und schüttelt den Kopf. Dann geht er in Schlangenlinien durch die Bücherstapel voraus, die den Boden der Eingangshalle bedecken wie Schären vor den Küsten der Gelehrsamkeit, findet unterhalb der Treppe einen schmalen Durchlaß in den nächsten, großen, ursprünglich lichten Raum, dessen Fenster sich offensichtlich nach der Rückseite, zum Rathaus hin, haben öffnen lassen, bevor der bibliophile Ausschlag auf die Fensterbänke und die Laibungen hinaufgekrochen kam. Die vier Wände sind wie in einer alten Bibliothek mit Schränken und Regalen ausgestattet, das Innere des Zimmers ist mit Tischen vollgestellt, auf und unter denen neben Büchern Zeitschriften und Manuskripte in säuberlichsten Sammlungen drauf warten, daß jemand sie liest oder weiterschreibt. Das Zentrum des Raumes beherrscht ein Tisch wie ihn Fokkos Onkel in seinem Emdener Haus besaß, mit Kugelfüßen an den gedrechselten Beinen und einer ausgezogenen Eichenplatte, auf der sich neben den obligatorischen Büchern ein Karteikasten, eine Schale mit Stiften, ein ledergebundenes Journal und ein silberner Samowar finden. Davor steht ein schlichter Küchenstuhl. Hamelmanns Zentrale, so scheint es.
Aus einem Sessel räumt er einen Karton mit Bänden, die wohl noch nicht in das fragliche System eingeordnet sind, bietet Fokko Platz, trägt ein Tablett mit Tee herbei, stellt es auf ein barockes Tischchen, auf dem seltsamerweise nicht das unscheinbarste Buch liegt, zieht den Stuhl heran, setzt sich dazu und zelebriert den Tee nach Art der Ostfriesen: zunächst einen Brocken Kandis in das dünne Porzellan, die heiße Flüssigkeit langsam und knisternd darüber, und zum Schluß wird die Sahne mit einem silbernen Löffel so vorsichtig auf den goldfarbenen Absud gegeben, als mische man Nitro und Glyzerin.
»Es ist ausgesprochen exklusiv«, sagt der alte Lehrer, deutet auf eine silberne Etagere mit allerlei Keksen, nimmt sich sogleich eine kleine Waffel und knabbert an ihr herum, daß es kräftig auf seinen grauen Anzug krümelt.
»Was?« fragt Fokko.
»Dieses System«, antwortet Hamelmann, schiebt sich den Rest der Waffel in den Mund, entstaubt seine Weste mit der flachen Hand und entläßt sie dann in einem hohen Bogen, mit dem er den Raum, das Haus und den Kosmos umfängt und die gesprochenen Worte unterstreicht wie die folgenden. »Es ist gleichsam eine Erweiterung meines Hirns, Steen. Die alte Vorstellung, die innere und die äußere Welt trennten sich klar und entschieden auf meiner Netzhaut, ist so naiv wie die niedliche Idee des Kindes, es wäre unsichtbar, so es sich nur seine kleinen Hände über die Augen legt. Seit der Stunde unserer Geburt ist das Gehirn mit nichts anderem beschäftigt, als sich in die Welt hineinzufressen wie jeder Parasit in seinen Wirt. Wir tun Tag und Nacht nichts anderes, als ständig Verbindungen herzustellen zwischen uns in unserer Zelle, in der wir eingesperrt sind, und dem System außerhalb, daß wir so begreifen und schließlich in Besitz nehmen. Da kann aber am Ende niemand behaupten, er wüßte präzise, wo die Grenze verläuft zwischen dem Individuum und dem Rest der Schöpfung, das gibt es nicht einmal im Mutterleib, wir sind allerwärts vernabelt und verkabelt, und so, wie man unsere Existenz als Hautausschlag der Mutter Erde verstehen kann, so muß man erkennen, daß alles, was ich in einem Leben erfahre, Teil von mir wird, unlösbar, unlöschbar. Meine Sinne lassen das, was man Bewußtsein nennt, in die Realität hinauswachsen, meine Erfahrungen sind
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