Die Uhr der Skythen (German Edition)
Schwierigkeiten mit der absoluten Wahrheit. Der Vater wird nicht die Spur eines Zweifels gehabt haben, daß nicht ein Schiff ohne sein Wissen die Ems rauf oder runter geschlichen war, die Mutter gestand sich in diesen Dingen keine eigene Meinung zu und wird sicher gewesen sein, von einem Kriegsschiff auf der Ems lediglich geträumt zu haben. So waren zuletzt zwei Unwahrheiten zu einer einzigen Wahrheit geworden, der man alles absprechen konnte, aber nicht, daß sie wirksam existierte.
»Er hat noch gelebt, Vater.«
»Wer?«
»Der Tommy.«
Der Alte schüttelt den Kopf. Es ist nicht mehr als ein zittriger Tick.
»Der Tommy hatte noch gelebt, aber er hatte den Irrsinn des Krieges längst begriffen und anschaulich vor den sterbenden Augen, als er dich an der zerbrochenen Kanzel des Jägers erkannte, ein halbwüchsiger Grünschnabel, gerade alt genug, um mit einer Panzerfaust in den schmalen Händen auf einer Brücke über einen närrischen Entwässerungsgraben von einer Panzergranate zerfetzt zu werden, dumm genug, hinter einer Flak zu hocken, um auf die Schatten zu ballern, die seelenruhig über den schwarzen Nachthimmel zogen, um über Hannover oder Berlin ihre Schreckensbotschaften zu verkünden. Er hat noch gelebt, hat nach deinem Namen gefragt, Clemens, hat ihn merkwürdig ausgesprochen, so, als hätte er einen klebrigen Brei im Mund, hat gelächelt, dir das Taschenmesser geschenkt, don’t go to war, my boy, hat er gewispert, hat sich den Fliegerorden vom Hals genestelt, ihn in deine Hand gedrückt, und der klebrige Brei war nichts anderes als zinnoberrotes Blut, das ihm jetzt aus den lächelnden Mundwinkeln sickerte. Er schloß noch die Augen, der Kopf sackte ihm auf den Steuerknüppel und die Hände in den Lederhandschuhen fielen zu den Seiten weg. Miller stand auf seiner Fliegerkombi, du hast das Messer eingesteckt und den Orden, Good bye, Tommy Miller geflüstert und bist nach Hause, den anderen Bescheid zu sagen.«
»Robertson«, krächzt der Alte.
»Wie bitte?«
»Er hieß Robertson.«
»Und…?«
»Er war mausetot, als ich ihn fand. Ohne einen Tropfen Blut lag er über die Instrumente gebeugt, hatte den Orden nicht um den Hals, sondern in der linken Hand, als hätte er in letzter Sekunde das Ding über Bord und ins Watt pfeffern wollen. Er hat sich umgebracht, Fokko!«
Vergeblich versucht er, sich aufzurichten. Fokko schiebt einen Arm hinter den Kopf und die Schultern des Vaters, hebt ihn ein wenig an und stellt die Lehne höher.
»Gut so?«
»Ich habe ihn nicht gestohlen. Habe ihn für ihn verwahrt. Hätte das Ding stiekum in den Schlick drücken können oder in die Metallsammlung geben, aber es war seine Ehre, die ich hätte verschwinden lassen. Er ist umsonst gestorben, war kaum älter als ich, sie haben ihn aus seinem Flieger gezerrt, den Overall zerrissen und standen grinsend dabei, bis…«
»Es ist gut, Vater.«
Er hält die greise Hand und streicht über den dürren Arm. Der Vater atmet schwer, dann öffnet er die Augen und schaut Fokko mit erstaunlich klarem Blick an.
»Bleibst du?«
»Hier?«
»In unserem Haus.«
»Ja.«
Er schließt die Augen wieder. Sein Atem beruhigt sich. Fokkos Finger spielen mit dem Ring aus Fischknochen.
»Den sollst du tragen, wenn ich nicht mehr bin.«
»Ja.«
»Und deinem Sohn geben, wenn du in die Grube gehst.«
»Ich habe keinen Sohn«, sagt Fokko lachend.
»Dann schaff dir bald einen an.«
Gern, denkt Fokko, da knallt die Tür auf, Schwester Ulla kommt mit Kaffee, Kuchen und sieben Dutzend greller Worte des Frohsinns, deutet mit einem Zeichen der Ermunterung auf das Tablett, das sie wie eine Grabbeilage auf dem Fußende des Siechenbettes absetzt und ist schon wieder verschwunden.
»Da ist ein Sparbuch, Vater.« Er klappt das Brett über das Bett, stellt das Tablett drauf, riecht am Kaffee und probiert ein kleines Stück vom Kuchen.
»Willst du Kaffee?«
Der Kopf des Alten schwankt ein wenig hin und her.
»Kuchen?«
»Es gehört dir, das Sparbuch. Wie das Haus. Erzähl’ niemandem groß was davon.«
»Ich nehm’ den Kaffee.«
Der Vater nickt, und in seinen Augenwinkeln glaubt Fokko ein scheues Lächeln zu sehen.
»Danke, Vater!«
»Für eine Tasse Abwaschwasser?«
»Für alles.«
Er nimmt einen Schluck Kaffee, dann will er nach der Rente fragen, nach den Kosten für das Heim, nach Vollmacht und Patientenverfügung, doch all die vernünftigen Gedanken verflüchtigen sich, als er jenseits des Lächelns, das die fleckigen
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