Die Uhr der Skythen (German Edition)
Kindheit, und im Erwachen kommt es ihm dann vor, als schrieben sich diese Geschichten ganz einfach fort, und daß er weg war wieviele Jahre auch immer, daß er geglaubt hatte, sein Glück oder sonstwas zu finden in der Ferne, das ist dann nichts anderes als der wirre Traum eines langen Fieberschlafs.
Eines Morgens findet er im Schuppen eine Holzkiste, in der die Amulette seines Vaters liegen, die vollständige Sammlung dieser auf eine merkwürdige Art anziehenden Fetische aus Treibgut. Erst in diesem Augenblick erkennt Fokko, daß er sie bislang nicht vermißt hat. Es sieht so aus, als habe der Vater an seinem letzten Tag seine kleinen Kunstwerke eingesammelt, um sie nicht der Ewigkeit zu überlassen.
Trotz des schäbigen Wetters trägt Fokko die Kiste aus dem Haus, sucht die verrosteten Nägel und Haken an den Pfosten der Pforte, in den Laibungen der Fenster und hängt alles wieder auf. Wie ist das eigentlich an so einem Tag? Weiß man, daß es der letzte ist? Ist Vater zu Fuß zum Bus gegangen, vorher den zehntausendfachen Weg zur Werft, zum Hafen, mit einem Koffer auserwählter Habseligkeiten in der Hand ins Altenheim?
Tags darauf läßt sich Fokko bei der Sparkasse eine Vollmacht geben, die er seinen Vater unterschreiben läßt. Der unterzeichnet das Papier ohne nachzufragen mit einer krakeligen Hieroglyphe, die man in der Jemgumer Sparkasse ohne weiteres anerkennt. Gelegentlich fährt er ein oder zwei Passagen mit Hinrich über die Ems, sie sprechen über die Zeit, wie sie verfliegt, manchmal über die Lehrerin, über die Arbeit, die Fokko sucht und Hinrichs Bilder.
»Haste dich eingelebt?« fragt der.
Fokko schüttelt den Kopf.
»Es ist noch alles wie ein merkwürdiger Urlaub in der eigenen Kindheit.«
»Wie lange biste jetzt hier?«
»Eine gute Woche.«
»Das wird schon.«
Am Donnerstag fährt Fokko nachmittags nach Jemgum, schließt das Rad an Hamelmanns Zaun an und holt zunächst die Fotos aus der Drogerie. Die letzten beiden Bilder, die der Vater gemacht hat, zeigen ein frisches, mit Kränzen und Blumen bedecktes Grab. Ein Paar schwarzer Hosenbeine ist auf einem Foto im Hintergrund zu sehen, auf dem anderen am Rand eine benachbarte Grabstelle mit einem polierten Stein, auf dem man noch eben den Vornamen Engeline erkennen kann. Mutters letzte Ruhestätte auf der Insel Borkum. Vater hat das Bild wahrscheinlich nach der Beerdigung gemacht, oder er ist wenige Tage später mit einem Arbeitskollegen, der schwarze Hosen trägt, oder mit seinem Bruder, der nicht eher aus Bayern hat herkommen können, abermals mit der Fähre die lange Emsmündung hochgetuckert, die beiden sind wie zwei Kellner durch die Dünen zum Friedhof gelaufen, haben im Hotel Vierjahreszeiten einen Tee getrunken, dazu ein Gläschen Sanddornlikör genommen, fürchterlich süßes Zeugs, und Vater hatte, noch ehe sie mit der Bimmelbahn an den Anleger zurückschaukelten, den Film in der Kamera vergessen, wie er wohl den Tod seiner Frau vergessen wollte, an die Einsamkeit nicht denken, die ihn von jenem Tag an beschlich und befraß wie ein Holzbock über die Zeit einen stattlichen Baum.
Fokko muß mal bald auf die Insel, der Mutter ein paar Worte sagen.
Auf einem der anderen Fotos ist das Haus mit der verwildertern Hecke, das könnte auch im hintersten Winkel von Schottland sein oder vor fünfhundert Jahren. Die beiden letzten Bilder zeigen die aufgeklappte Zauberuhr, einmal aus der Distanz wie sonst ein hübsches Schmuckstück, dann aber nah und scharf, daß man den Stand der Hieroglyphen mühelos ablesen kann.
Die Uhr der Leuchtturmkirche zeigt halb vier. Fokko verstaut die Fotos im Rucksack, geht die paar Schritte zu Hamelmanns Palast, steigt die Freitreppe empor und klingelt, und in diesem Moment des Wartens fühlt er sich unversehens wie ein Schüler, der die versäumte Hausarbeit nachträgt, seine vergebliche Nachhilfestunde antritt oder zur Aussprache über die schulischen Aussichten vorgeladen ist. Er spürt ein uraltes Kneifen im Bauch, und die Hände verstecken sich zittrig und feucht in den Manteltaschen, da öffnet sich die Tür und der alte Hamelmann steht da wie ein großväterlicher Freund, grüßt ihn mit einem Nicken, als wäre er just nur von einer Besorgung zurück, macht mit der alten Hand eine Gebärde in das Haus, das Fokko nun betritt wie das Innere eines kolossalen Gelehrtengehirns. Auf den ersten Blick nimmt er nichts weiter wahr als Myriaden von Büchern, die sich wie eine schleichende Krankheit in der
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