Die Uhr der Skythen (German Edition)
beschreibt Hamelmann in ausführlichen Worten die Einzigartigkeit des menschlichen Zentralorgans, die ultima ratio aller Kreisläufe und Vernetzungen, Schaltstelle und Nadelöhr, durch das alles notwendig fließe, was dem Körper Leben gebe und Verstand. Das Gehirn, nicht umsonst häufig als der Sitz von Persönlichkeit oder gar Seele mißverstanden, steuere zwar auf diskrete Art und Weise eine Reihe unbewußter Aktivitäten wie Atmung, Verdauung und Produktion diverser Ingredienzien, das Singuläre am wuchernden Nervensystem des Homo sapiens sei indessen die unglaubliche Fähigkeit zur Reflexion. Deswegen könne man mit einigem Recht und in gewissem Sinne den Menschen als Krönung der Schöpfung begreifen, da er in ständiger Selbstvergewisserung und Datenpflege ein sich unausgesetzt veränderndes und womöglich verbesserndes Biosystem darstelle, das erst mit dem Hirntod an ein Ende des Fragens und Suchens gerate, an das viele Träger selbigen Wunderorgans nicht einmal glaubten, denn das sei das paradoxe Resultat einer sich durch die Menschheitsgeschichte fortschreibenden Entwicklung: daß wir letztlich nicht nur fähig seien, das Vergangene zu erinnern und das Gegenwärtige zu reflektieren, sondern auch das Künftige zu imaginieren – sogar über den eigenen Tod hinaus. Allein diese Möglichkeit habe zwingend zu allerlei Vorstellungen über ein Jenseits führen müssen, das bislang nirgends nachgewiesen sei, allenfalls als minimale Fließströme oder eiweißartige Ablagerungen in eben diesem Organ.
»Sie verstehen, was ich meine, nicht wahr, Steen? Das Metaphysische ist in unserem Hirn angelegt, wir geraten quasi notgedrungen und unweigerlich auf die existenziellen Fragen nach einem Leben jenseits des körperlichen Todes, und erst recht im Bewußtsein unserer Einzigartigkeit wollen wir uns nicht vorstellen, ausgerechnet mit diesem edlen Geschlecht sei es irgendwann sang- und klanglos mit einem todesschwarzen Filmriß zu Ende.«
Fokko nickt.
»Des Menschen Genius«, spricht Hamelmann und setzt sich an den Teetisch zurück, »ist ebenso Beweis für die metaphysische Idee wie Widerlegung. Bei den wirklichen Fragen ist er uns also wenig hilfreich.«
Sein Lachen, so kommt es Fokko vor, besitzt eine resignierte Färbung, etwa so, als wäre der Lehrer bitter enttäuscht, nach all den Jahren des Forschens und der Allwissenheit die letzte große Frage nicht beantworten zu können.
»Was ist das?« Hamelmann hält die Fotografie in der Hand und betrachtet sie.
»Die Uhr, die ein Bekannter für skythisch hält.«
»Interessant!« Die Frage nach der Herkunft der Uhr ist augenscheinlich eine brauchbare. Hamelmann fährt mit einem Finger über das Foto. »Das sind Sternzeichen, wahrscheinlich keltische oder dergleichen, aber die Symbole scheinen mir älter zu sein als das Uhrwerk, also die Mechanik, die handwerkliche Ausführung, Steen!«
Er steht auf, tritt an das Fenster, hält das Foto ins Licht, nimmt die Brille von der Nase und schaut sich das Bild aus nächster Nähe an. Der Kopf der Katze auf dem Bücherstapel folgt seinem Blick.
»Kann es sein, daß das Uhrwerk einen äußeren Ring gegen einen inneren dreht und so das Maß für die ablaufende Zeit symbolisiert?«
»Genau.«
»Woher haben Sie das Stück?«
»Gefunden.«
»Gefunden?«
»In einem Container.«
»Interessant.« Hamelmann setzt die Brille wieder auf, macht Fokko ein Zeichen und geht in die Eingangshalle voraus, den schmalen Pfad auf der mit Büchern befrachteten Treppe in die erste Etage, wo er gezielt in einen der Räume und an ein Regal tritt, aus dem er ein steinschweres Kompendium zieht, das offenbar die Geschichte der Uhr bis zum ersten Tag der Schöpfungswoche zurückverfolgt. Eine Weile blättert er hin und her, dann hat er gefunden, was er wohl in unklaren Zusammenhängen in seinem Zentralorgan gespeichert hatte und zeigt dem ehemaligen Schüler die Abbildung einer zylindrischen Messingdose, auf deren Deckel Zahlen, astronomische Zeichen und ein schmaler Zeiger erkennbar sind. Außerhalb der Mitte findet sich ein Bohrung, die von innen zur Hälfte von einer Scheibe verschlossen ist, welche wahrscheinlich die Mondphase darstellen soll.
»Eine Trommeluhr«, sagt Hamelmann, »vierhundert Jahre alt.«
»Das ist was anderes.«
»Ja. Ist aber am ehesten vergleichbar.«
Er stellt das Buch zurück. Zwei junge Katzen treten in die Türöffnung, schauen sich kurz um und gehen wieder.
»Wo ist die Uhr jetzt?« fragt Hamelmann und macht sich
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