Die Uhr der Skythen (German Edition)
ohne sonderliche Anstrengung möglich, auf einem Bildschirm zu sehen und zu hören, was ein Mensch am gegenüberliegenden Ende der Welt tut und sagt.«
Für eine Weile spricht keiner der beiden ein Wort. Still zieht Hamelmann seine Kreise, Fokko trinkt vom Tee, eine grau-schwarz getigerte Katze kommt durch die Tür, streicht für einen Moment um die Tischbeine, setzt mit einem eleganten Sprung auf einen Stapel Bücher auf einer Fensterbank, wo sie es sich bequem macht und im Garten nach Mäusen Ausschau hält.
»Das alles funktioniert nur im Element der Zeit«, sagt Fokko schließlich.
Hamelmann hält inne und nickt.
»Wie ein Fisch nur im Wasser schwimmen kann. Das Element der Zeit, Steen. Das bringt uns auf die Funktionsweise des Gehirns zurück. Sie erinnern sich an den Diskurs neulich am Gartenzaun über die Funktionsweise unseres Bordcomputers.«
»Ja.«
»Geben Sie mir einen Auftrag, Steen!«
»Wie bitte?«
»Fragen Sie mich was! Fordern Sie mein Gedächtnis heraus!«
Er steht in der Mitte des Raumes, faßt sich mit den Händen an den Kopf, läßt sie sodann auseinanderfallen und in kleinen Kreisen den Kosmos der Allwissenheit umfangen, diese mit Büchern gesättigte Villa als pathologische Auswucherung des Lehrerhirns.
»Wie«, fragt Fokko, »ist die Adresse einer gewissen Merreth Winterboer?«
Hamelmann denkt nicht lange nach.
»War wahrscheinlich in meiner Klasse, Merreth Winterboer, wohnte, so glaube ich mich zu erinnern, irgend bei euch da oben in der Ecke, aber das ist komplett lächerlich, Steen, da bemühen Sie das Telefonbuch von Jemgum und die Frage ist geklärt.«
Mit offenen Händen und hochgezogenen Augenbrauen steht das universelle Wissen da, erwartet nichts weiter als eine grandiose Frage.
»Was wissen Sie über eine Uhr der Skythen?«
Hamelmann setzt sich zurück auf den Stuhl, befragt die Tasse mit allen zehn Fingern nach ihrer Wärme, als lese er die Antwort auf Fokkos Frage aus dem Tee, dann nimmt er einen langen Schluck, gießt sich nach, legt die Hände auf die Knie und lehnt sich zurück.
»Die Skythen, das kann ich Ihnen so sagen, kannten naturgemäß keine Uhren, sie lebten nach Sonne und Mond, pflegten eine fruchtbare Kriegskunst und besaßen eine auffällige Kunstfertigkeit in der Herstellung von Schmuck und ästhetischen Gerätschaften. Aber sie besaßen keine Technik. Weil sie sie nicht brauchten. Sie waren Nomaden, ein Reitervolk, das sich irgend in der Gegend der Sowjetunion herumtrieb.«
»Hab ich mir gedacht«, sagt Fokko und ihm kommen die Fotos von der Uhr in den Sinn, die er vorhin aus der Drogerie abgeholt hat. Er ist sich indes überhaupt nicht sicher, ob es sonderlich klug wäre, von der Zauberei anzufangen. Der alte Lehrer würde nicht eher Ruhe geben, bis alle Geheimnisse des Wunderdings entschlüsselt wären.
»Sie haben neulich erklärt«, sagt er, »daß man sich das menschliche Gedächtnis wie eine Bibliothek vorstellen kann, die man mit einer Frage betritt, um eine Antwort zu finden.«
»So ungefähr.«
»Das ist mir zu lexikalisch. Was ist, wenn man keine Frage hat? Das Gehirn stellt sich ja nicht einfach ab oder auf stand-by ?«
»Richtig, Steen! Das bringt uns darauf, wie das Gehirn tatsächlich funktioniert, nämlich nur quasi nebenher wie eine Bibliothek. Nur in gewissen Problemstellungen, die wir zum Beispiel mit dem Begriff lexikalisch belegen könnten. Die Medizin definiert den Klumpen Knetgummi in unserem Schädel nicht umsonst als Organ. Es ist kein Apparat so wie ein Computer, dessen Aktivitäten man, wenigstens zum größten Teil, steuern kann, den man zielgerichtet einsetzt und dementsprechend ein- oder ausschaltet.«
Hamelmann hat sich wieder erhoben und geht umher.
»Wie jedes Organ ist das Hirn permanent in Betrieb, besitzt nicht einmal eine vernünftige Nachtabsenkung wie das Herz oder eine Art Bereitschaftsdienst wie die Leber. Gerade im Schlaf, wenn wir die Selbstkontrolle wenigstens partiell aufgeben, läuft es zu Höchstform auf, spendiert exaltierte Theaterstücke, schwermütige Spielfilme und einen Haufen Rätsel, sofern wir uns am nächsten Morgen daran erinnern. Von unserem Hirn können wir uns am ehestens vorstellen, daß es sich verselbstständigt, und wenn wir jemanden betrachten, der schizophren ist oder psychotisch, so ist in diesen Fällen genau das geschehen.«
Fokko holt nun doch das Foto mit der aufgeklappten Zauberuhr aus dem Rucksack und legt es still neben des Lehrers Teetasse auf den Tisch. Derweil
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