Die Uhr der Skythen (German Edition)
nachwachsende Triebe, die sich nach dem Licht der Erkenntnis ausrichten und ihre Haftwurzeln eben da ansetzen, wo sie sich Nahrung und Wärme, Aufklärung und Freude versprechen. Was ich damit sagen will…«
Wie ein vorwitziger Spatz bei Tisch einen Krumen stiebitzt, greifen Hamelmanns Finger nach einem Keks und lassen ihn flink zwischen seinen grauen Lippen verschwinden, um der inneren Welt einen weiteren Partikel der äußeren einzuverleiben.
»Was hat das mit den vielen Büchern zu tun?« fragt Fokko.
»Das Buch ist ein gutes Beispiel«, antwortet der Lehrer mit glänzenden Augen, als hätte er genau diese Frage erwartet, denn wenn man etwas niederschreibe, nur eine Notiz auf einen verknitterten Zettel, ganz banal, habe man sich sozusagen entäußert, etwas also von innen nach außen gegeben, Besitz ergriffen von einem Teil der Welt, sich vernetzt, wie es modern ausgedrückt werde, und damit Wurzeln geschlagen außerhalb des Kerns eigener Existenz, wie ein Korallenriff wuchert, ein Efeu einen ausgewachsenen Baum verschlingt oder ein Bazillus sich in einem organischen System ausbreitet.
»Bis er es vollständig in Besitz genommen, also getötet hat.«
»Ja«, lacht Hamelmann. »Macht euch die Erde untertan. Es ist der unauflösliche Impuls eines jeden Lebewesens, sich unverschämt und gedankenlos auszubreiten, selbst wenn der Erfolg ungehinderten Wachstums das Ende der eigenen Art bedeuten sollte. Es sind wahrscheinlich die Ratten, die alle anderen höher organisierten Organismen überleben werden. Vielleicht auch nicht, und die Tauben mutieren zu den absoluten Herrschern des Planeten, aber die Schöpfung denkt nicht über sich selbst nach. Nur der Mensch ist dazu in der Lage, und wie ihn die Fähigkeit zur Reflexion stark macht und einzigartig, so ist das seine Schwäche. Wir sind die Spezies mit einer lästigen Disposition: es ist der Skrupel. Er wird am Ende nicht verhindern, daß wir nicht mehr als ein Nebensatz im Geschichtsbuch des Universums sein werden, eine lächerlich aufgeregte Episode, aber der Skrupel ist der Urgroßvater der Aufklärung, und ohne die gäbe es das hier nicht.«
Mit einer aufflatternden Bewegung seiner Finger verweist er auf die Bücher im Raum, im Haus und auf dem restlichen Erdball, nimmt die Teetasse mit der rechten Hand, setzt sie in die linke, führt sie nah an seinen Mund und pustet über den goldbraunen Spiegel, ehe er vorsichtig einen ersten Schluck nimmt.
»Die Entwicklung des Bewußtseins ist die Entwicklung der Erinnerung«, sagt er, setzt die Teetasse zurück, steht auf und begibt sich auf einen erprobten Kreuzgang der Aufklärung um die Tische und an den Regalen entlang, hat offenbar in eine vor langer Zeit verfertigte und ungezählte Male vorgetragene Vorlesung gefunden, aus der er die nächste Zeit wohl kaum herausfinden wird.
»Es ist ein epidemischer Prozeß, Steen, und er ist untrennbar wechselseitig, denn ebenso wie das Schreiben verknüpft uns das Lesen mit der Welt, nicht wahr, und das ist mehr als nur der bunte Bauklotz, nach dem das Kleinkind greift. Es ist…«
»Wir erfahren also die Welt nicht nur innerhalb der engen Grenzen unserer persönlichen Geographie«, unterbricht ihn Fokko.
»Sondern?«
»Auch in der Zeit.«
»Beispiel?«
»Wir können in einem Buch, das vor hundert Jahren geschrieben wurde, eine Geschichte lesen, die vor fünfhundert Jahren geschehen ist oder auch nicht, und es kommt uns vor, als besäße wir eine ganz eigene Erinnerung daran.«
»Richtig. Das ist wohl das, was wir Vorstellungsvermögen nennen.«
Hamelmann bleibt für einen Augenblick stehen, vollführt eine halbe Drehung und ändert somit die Richtung seines Rundgangs, als wollte er symbolisieren, daß es immer die zwei Seiten einer Medaille zu betrachten und zu bedenken gibt.
»Einzig der Mensch«, sagt er dann, »ist in der Lage, über die konkrete Gegenwart hinaus Erfahrungen zu machen. Wenn es eine gute Geschichte gewesen ist, wo ist letztlich dann der Unterschied zwischen Erleben und Imagination in der Summe der Erinnerung?«
»Nirgends«, sagt Fokko. »Wenn eine Sonatine, die vor drei Jahrhunderten komponiert worden ist, mich heute zu Tränen rührt, so drücken sich in mir die Emotionen aus, die der Künstler vor so langer Zeit selbst erlebt hat.«
»So ist es. Der Mensch allein beherrscht diese komplexe Form der Kommunikation. In den steinzeitlichen Höhlen hat er begonnen, Bilder aus dem eigenen Kopf in den eines anderen zu transferieren und heute ist es
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