Die Uhr der Skythen (German Edition)
zerreißt. Fokko gäbe einiges, um zu erfahren, was der Mann niederschreibt. Es ist augenscheinlich mehr als eine Notiz, die einen später an ein Telefonat, eine Besorgung oder an ein Buch erinnert, von dem er in der Zeitung gelesen haben mag. Er schreibt eine Weile, legt nach dem letzten Punkt den Stift aus der Hand, richtet sich auf, blättert zurück und liest das Geschriebene mit einer derart kritischen Miene, als wäre es keineswegs von ihm selbst verfaßt. Das ist eine von ihm vernachlässigte Form der Therapie gegen die Düsternis der Gedanken, überlegt Fokko, das Schreiben mindert die Verluste, die durch Erosionen entstehen, die die Zeit in ihrem unnachgiebigen Lauf hinterläßt, es ist ein Balsam gegen die Entwurzelung, lindert die Schmerzen der Vergänglichkeit, denn auch diesen Moment wird es schon bald nicht mehr geben: Merreth vollführt die Teezeremonie, rührt versunken in der Tasse und erst, als er weiterspricht, schaut sie ihn an.
»Wenn meine Mutter ihn damals nicht verlassen hätte, denn er hat das kein Stück anders erlebt, sie setzt sich auf ihr Rad, nimmt die Fähre und legt sich in ein Krankenhaus in der Stadt, um dort überflüssigerweise zu sterben, wenn also seine Frau noch lebte, läge er nicht in einem Heim in Leer, sondern zöge in alle Herrgottsfrühe mit der Reuse ins Watt und schnitzte am Abend an seinen Fetischen herum. So aber geht er ein wie ein Fisch an Land.«
Er spürt, wie sich ihre Hand auf die seine legt.
»Es ist gut«, sagt sie. »Jetzt, wo du zurück bist, wird dein Vater in Ruhe gehen können.«
»Ja«, sagt er, »wird er wohl.«
»Die Sonne kommt raus, Fokko. Gehen wir gleich ans Meer?«
»Ja, gehen wir.«
So ist es tatsächlich gut. Er wünscht nichts weiter, als ihre Hand immer in der Nähe der seinen.
Auf der Promenade verlieren sich ein paar Spaziergänger, der Strand gehört den Möwen, die aufgeregt kreischend den Ertrag der Ebbe einholen. Der Himmel klart allmählich auf, ein paar Sonnenflecken liegen auf der Nordsee und der Wind verliert sich in den Dünen. Sie gehen den großen Bogen von West nach Nord am Wasser lang, unterhalten sich über die Schönheit der schlichten Landschaft, über die Symphonie des Meeres, die an allen Tagen und in jeder Nacht seit weltalter Zeit an den Stränden der Erde erklingt, ob es ein von Sturmvögeln besetztes Kliff ist, ein von verliebten Menschen sentimental betrachteter Strand oder der Küstenabschnitt einer Invasion, dem sich in der Morgendämmerung die Landungsboote nähern: seit abermillionen von Jahren erklingt die immer selbe Melodie, und sollte einst alles Leben auf dem Planeten erloschen sein, so plätschern und krachen, rauschen und tosen die Meere der Erde auch weiter gegen ihre Gestade.
In den Dünen finden sie einen windstillen Sonnenfleck, hocken sich aneinander, schauen nach den Schiffen am Horizont und phantasieren wie Kinder abenteuerlichste Reisen, zu denen sie aufbrechen mögen, mit einem Frachter nach Südamerika und den Amazonas bis nach Manaus hinauf, durch den Suezkanal und um Indien herum ins Südchinesische Meer oder wenigstens mit einem Fischdampfer um die Nordspitze Schottlands, würden sich auf den Shetlands absetzen lassen, nach einem verlassenen Haus suchen, wo das ganze Jahr der Wind geht und das Meer an den Felsen nagt. Merreth würde Pullover stricken und Fokko mit einem Trawler Richtung Färöer auf den Nordatlantik hinaustuckern, Lachs und Hering fischen. Es ist gewiss nichts als ein kindliches Spiel, aber sie empfinden dennoch beide den tiefen Ernst, spüren die gemeinsame Wärme, und als sie sich dann erheben, den Sand von den Kleidern klopfen, als wären es die erträumten Geschichten, da tragen sie etwas ungewiss Gemeinsames mit sich den Strand nach Osten hinauf: als wären sie tatsächlich auf den Shetlands gewesen. Und wenn auch nur für diesen einzigen Tag.
Sie verlieren sich in der Zeit, vergessen jegliche vergangene Wirklichkeit und sehen nicht weiter in die Zukunft, als der Blick reicht bis an die Linie, an der sich das Meer graugrün mit dem Himmel vereint. Sie halten sich an der Hand wie Geschwister auf dem Weg von zu Hause fort, und ehe sie sich verirrt haben, fühlen sie schon die aufsteigende Erregung, sie werden nichts Verbotenes tun, alles kommt auf sie zu, als wären sie Figuren in einem Märchen, das seit langer Zeit erzählt wird. Kurz vor der Naturschutzzone finden sie ein verlassenes Strandcafé, trinken bitteren Kaffee aus abgestoßenen Tassen, die Frau
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