Die Uhr der Skythen (German Edition)
Touristeninformation mit einer überschaubaren Grünanlage, dahinter ein Kirchturm, dessen Uhr die Inselzeit derzeit nicht zeigt, weil von ihm nicht mehr zu sehen ist als eine mittelgraue Silhouette im hellgrauen Nebel.
Fokko erkundigt sich im Bahnhof nach der Rückfahrt.
»Um halb fünf fährt die Bahn von hier zur Reede zurück. Wie spät ist es?«
»Keine Ahnung«, sagt sie. »Ich habe keine Uhr.«
Er nimmt es als gutes Zeichen, schaut zur Touristeninformation hinüber und davor steht wie eine eckige Litfaßsäule eine öffentliche Uhr und zeigt wie selbstverständlich die Zeit.
»Viertel vor elf.«
»Erst zum Friedhof?« fragt sie.
»Erst zum Friedhof.«
Sie verlassen das Zentrum und kommen bald in einen Bereich, der wie eine Wohnsiedlung aussieht, aber beinahe jedes Haus besitzt einen eigenen Namen und bietet Zimmer oder Ferienwohnungen an.
»Wann warst du das letzte Mal da?« fragt Merreth.
Fokko überlegt einen Moment.
»Wahrscheinlich zur Beerdigung. Aber ich kann mich an nichts erinnern. Habe erst dieser Tage von meinem Vater erfahren, daß die Mutter hier liegt.«
»Wie bitte?«
»Ja, ich hatte alles vergessen, verloren und verdrängt, wie mir scheint. Mit Hinrich habe ich gesprochen, der kann sich an alles erinnern. Mit welchem Kutter wir hierher getuckert sind, wer dabei war, wie das Wetter war und wie seekrank der Pastor, der meine Mutter hier irgendwo unter die Erde gebracht hat.«
Der Inselfriedhof liegt an der Straße, die zur Reede hinausführt, ist von Hecken und einer Mauer mit querliegenden Rohren und Pfeilern mit Klinkerdächern umgrenzt. Fokko geht umher, überfliegt die Sterbedaten der Insulaner und sucht nach der Mutter, die er nach einer Weile zwischen immergrünen Gehölzen, Buchsbaumhecken und Trauergestecken neben Engeline Zuidema und ihrem Mann Hermann findet, ein schmales Grab ohne ein grünes Blatt oder einen einzigen Grashalm, denn schicksalsschwer und für alle Ewigkeit liegen in der Umgrenzung aus rotem Klinker nichts als zementgraue Waschbetonplatten. Einzig ein Zweig Buchsbaum wächst von den Nachbarn herüber, als reichten sie zaghaft einen Finger von Grab zu Grab, um die steinerne Gefangenschaft aufzubrechen.
»Entsetzlich«, sagt er leise.
Das Grabmal besteht aus einem Findling, auf den eine kleine Sandsteinplatte mit ihrem Namen geschraubt ist. So sehr das Grab bis zum Jüngsten Tag gedacht ist, an dem sie Schwierigkeiten haben wird, es zu verlassen, so improvisiert und vorläufig erscheint der Grabstein, der schräg und verwittert einen Namen preisgibt, den er so erst erinnert, da er ihn hier liest: Carola van Steen.
»Carola, richtig, Carola David.«
»Ihr Mädchenname?«
»Ja. Den hatte ich auch vergessen.«
Er geht in die Hocke, sucht nach einem Spalt zwischen den Steinplatten, um wenigstens eine anzuheben, beiseite zu schieben und so ein wenig Luft in die Gruft zu lassen.
»Entsetzlich«, sagt er wieder, erhebt sich und schaut sich um. »Da soll kein Wurm in den Sarkophag vordringen, das ist ein verschwiegenes Mausoleum, wie ein…«
»…wie ein Tabu.«
»Wieso?« Er gibt den Versuch auf, eine der Betonplatten bewegen zu können. »Denkbar, daß sie sogar zementiert sind. Vater werden wir nie und nimmer in dieser versteinerten Krypta versenken, man bekommt ja Beklemmungen, wenn man nur hinschaut.«
»Was willst du machen?« fragt sie.
»Ich weiß es nicht«, sagt er und wischt sich die Hände an der Hose sauber. »Mein Alter gehört eigentlich nach Pogum. Hat er selbst gesagt. Aber von seiner Frau getrennt will er auch nicht liegen. Und da sie ihm vorausgegangen ist, will er ihr wohl hierher folgen. Das hat er mir klar und eindeutig erklärt.«
»Also?«
»Er kommt hier zu liegen. Aber bei der Gelegenheit wird dieser fürchterliche Waschbeton verschwinden. Nichts als Efeu soll hier wachsen. Ich nehme Efeu von unserem Haus, lege zunächst seine Talismane auf der Grabstelle aus, und dann kaufen wir einen guten Stein, schwarzen, polierten Marmor, auf dem in alter Schrift ihre Daten vernünftig geschrieben stehen, wann und wo sie geboren und gestorben sind. Und ihr Mädchenname: David.«
»Lebt er schon lange im Heim?«
»Ich weiß nicht genau. Seit einiger Zeit gewiß.«
Mit einer bedächtigen Verneigung verabschiedet er sich von seiner Mutter, versichert ihr mit sanfter Stimme, sie alsbald von der Last der Betonplatten zu befreien, und da ihm in den Sinn kommt, daß er somit den Tag, an dem sein Vater dem Schnitter folgen wird, in die nähere
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